Der erste Film, mit dem der Regisseur auch außerhalb seiner Heimat bekannt wurde, war "Kitchen Stories" (2003), eine skurrile Komödie über eine Studie, die in den Fünfzigerjahren das "Küchenverhalten" norwegischer Junggesellen untersucht hat. Prompt wurde sein nächstes Werk, die mit US-Stars besetzte Charles-Bukowski-Verfilmung "Factotum", mehr als nur eine Nummer größer. Typisch für Hamer ist eine episodische Erzählweise und die Liebe zu seinen gern schrägen Figuren, eine Kombination, die auch "Home for Christmas" (2010) geprägt hat. Es folgte eine mehrjährige Pause und schließlich "1001 Gramm", seine jüngste Arbeit, die deutlich aus dem Rahmen fällt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die ästhetische Umsetzung ist kühl, distanziert und beinahe steril, was perfekt dem Entwurf der weiblichen Hauptfigur entspricht: Hamer, der bei seinen Filmen stets in Personalunion Regisseur, Autor und Produzent ist, inszeniert Hauptdarstellerin Ane Dahl Torp wie Nicole Kidmann. Marie ist Wissenschaftlerin und arbeitet fürs norwegische Eichamt. Entsprechend kontrolliert, sauber und überschaubar ist auch ihr Leben. Emotionen sind in ihrem Dasein offenbar nicht vorgesehen; es dauert ewig, bis zum ersten Mal ein Lächeln über ihr Gesicht huscht. Später verrät Hamer beiläufig, dass es sich bei dem Mann, der regelmäßig ihre Einfahrt blockiert, um den Ex-Gatten handelt, der nach und nach seine Sachen aus dem ehemals gemeinsamen Haus holt. Einzig bei ihrem Vater und beruflichem Vorbild Ernst (Stein Winge) öffnet sich Marie hin und wieder ein wenig. Als Ernst einen Herzinfarkt hat, muss sie an seiner Stelle nach Paris reisen, um dort das norwegische Referenzkilogramm prüfen zu lassen. Erst durch die Begegnung mit dem ehemaligen Wissenschaftler Pi (Laurent Stocker), seinem Namen zum Trotz nicht etwa Mathematiker, sondern Physiker, lernt sie, dass eine Prise Chaos nicht schaden kann: Aussteiger Pi, früher Mitarbeiter im Internationalen Büro für Maß und Gewicht (IBMG), wo das Urkilo wie ein Goldschatz gesichert ist, hat seinen Job aufgegeben, um sich um seine kranke Mutter kümmern zu können, arbeitet halbtags als Gärtner und erforscht in seiner Freizeit den Gesang der Vögel.
Natürlich hat Hamer dafür gesorgt, dass sich der Wandel Maries auch in der Bildsprache widerspiegelt. Über weite Strecken ist blau die dominierende Farbe des Films. Wohnung und Arbeitsplatz, das Krankenhaus, Marie Kleidung, ihr Elektroauto: alles in kühlem Blau gehalten. Die sorgfältig austarierten Einstellungen entsprechen der strengen Ordnung in ihrem Leben, sodass "1001 Gramm" regelrecht aufgeräumt wirkt. Das macht es auf der anderen Seite nicht leicht, sich für den Film zu erwärmen. Marie lädt kaum zur Identifikation ein, und die Fachsimpelei der aus der ganzen Welt angereisten Wissenschaftler ist sogar für die Seminarteilnehmer selbst ermüdend. In hohem Maß befremdlich ist auch der an spirituelle Verehrung grenzende Umgang mit dem Urkilo, der "Mutter aller Kilos", das wie eine religiöse Reliquie behandelt wird. Kein Wunder, dass Hamer die IBMG-Mitarbeiter wie Gralshüter inszeniert: Ihrer Überzeugung nach muss ein Kilo überall auf der Welt identisch sein, sonst drohen "Krieg und Chaos". Wie wenig diese Welt mit dem wirklichen Leben zu tun hat, wird Marie aber erst klar, als ihr wohlgeordnetes Dasein aus den Fugen gerät, was Hamer selbstredend anhand des norwegischen Referenzkilos verdeutlicht: Bei einem Autounfall wird der Behälter beschädigt; Marie muss erneut nach Paris und ist endlich bereit, sich auf Pis Perspektive einzulassen. Er ist es auch, der sie veranlasst, ihre Haltung zum Dasein zu überdenken, indem er ihr zwei Fragen stellt: Was wiegt das Leben? Und was die Liebe? Angesichts solcher Fragen sind die äußeren Kennzeichen für Maries Sinneswandel beinahe banal: Sie trägt ihre Haare öfter offen, die Kleidung ist weniger streng und auch mal ein bisschen bunt, und ihr neues Auto ist rot.
Obwohl "1001 Gramm" also eine sehr persönliche Geschichte erzählt, die sich schließlich sogar zur Romanze wandelt, ist Hamers Drama, das wie seine letzten Werke vom ZDF koproduziert worden ist, insgesamt recht spröde; die Faszination ist wie so oft bei Filmkunst eher akademischer Natur. Mit seinen langen Einstellungen stellt sich der Regisseur bewusst gegen das Mainstream-Kino. Aber man kann den Film natürlich auch als Oase der Entschleunigung betrachten, und der zuweilen bis zur Unkenntlichkeit kaschierte Humor ist ein Fest für alle Freunde des subtilen Witzes. Dafür steht nicht zuletzt der Titel, der sich von selbst zu erklären scheint, dessen wahre Bedeutung Hamer aber erst gegen Ende offenbart.