Geschickt verknüpfen Mathias Schnelting (Buch) und Alexander Dierbach (Regie), von denen auch die drei letzten „Helen Dorn“-Episoden stammen, den Drogenhandel mit einem Kinderschicksal: Bei einer Razzia in einem Club nimmt die Kommissarin eine 16-Jährige unter ihre Fittiche. Mila (Tara Fischer) macht sich zwar umgehend aus dem Staub, aber es dauert nicht lange, bis sich die Wege des Mädchens und der Kommissarin wieder kreuzen, denn die junge Frau gerät auf einem von Schnelting ziemlich clever eingefädelten Umweg ins Visier der Drogenhändler: Mila und ihre Schwestern sind Waisen, der vom Gericht bestellte Vormund Kurtz (Hary Prinz) verwaltet ihr Erbe. Der Anwalt arbeitet auch für die albanische Drogenmafia und ist ein ganz schlimmer Finger, der Mila jedes Mal, wenn sie Geld braucht, zum Sex zwingt. Als ihre Freundin Jasmin (Emma Bading) sie dazu anstiftet, sich an Kurtz zu rächen, geraten die beiden zufällig in den Besitz von höchst brisanten Aufnahmen: Kurtz hat heimlich einen Mord im Milieu gefilmt. Jasmin hat die lebensgefährliche Idee, den Mörder (Yasin el Harrouk) zu erpressen. Und weil Kurtz den Besuch der Mädchen nicht lange überlebt hat, gelten sie nun ihrerseits als Mörderinnen.
„Verlorene Mädchen“ knüpft an die Qualität der letzten Episoden an, geht dank der Betroffenheit der Hauptfigur aber noch einen Schritt weiter: Für Helen Dorn geht es diesmal nicht nur um Recht und Ordnung; Mila erinnert sie an sich selbst in dem Alter. Weil das Mädchen mehr und mehr ins Zentrum der Handlung rückt, war es umso wichtiger, eine Schauspielerin zu finden, die den verschiedenen Facetten dieser Rolle gewachsen ist: Mila ist gleichzeitig hart und verletzlich, mädchenhaft und doch erwachsen; nicht so abgebrüht wie ihre Freundin Jasmin, aber ebenso mutig; und sie kümmert sich seit dem Tod der Eltern wie eine Mutter um ihre kleine Schwester. Mit Tara Fischer ist die Figur glänzend besetzt. Sie war schon in der ZDF-Komödie „Hilfe, wir sind offline!“ als aufmüpfige Tochter sehenswert; zuvor ist sie in Beiträgen der Sonntagsreihen „Katie Fforde („Vergissmeinnicht“) und „Inga Lindström“ („In deinem Leben“) sehr positiv aufgefallen. Hier beweist sie, dass sie auch das Drama beherrscht. „Verlorene Mädchen“, zwischendurch mal Thriller und Gangsterfilm, ist ohnehin eine gekonnte Mischung.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Davon abgesehen ist Anna Loos, hier womöglich noch minimalistischer und destillierter als sonst, grundsätzlich ein Grund, sich „Helen Dorn“ anzuschauen; großartig, wie sie der sich beschwerenden BKA-Kollegin ein ruppiges „Heul doch“ hinwirft; und schön, dass sie nach dem Tod des ersten Mädchens und dem Frust über die Konsequenzen der von höherer Stelle vorgegeben Regeln – „fahnden, verhaften, laufen lassen“ - daheim auch mal eine Träne vergießen darf. Sympathisch ist auch der grimmige Humor zwischen Vater und Tochter: Er löst ein Kreuzworträtsel und sucht eine „Naturkatastrophe mit sieben Buchstaben“, sie: „Familie“. Ähnlich lakonisch, aber alles andere als lustig inszeniert Dierbach, wie sich Kurtz an Mila vergeht; es genügt völlig, dass die Kamera ungewöhnlich lang vor der geschlossenen Tür verharrt. Da passt es prima ins Bild, dass sich der Film auch beim Mord an dem Anwalt nicht mit der erstbesten Lösung zufrieden gibt.