Da die Website anscheinend irgendwo in Asien betrieben wird, ist die deutsche Polizei machtlos. In der Hoffnung, einen Hinweis auf die Identität des Urhebers zu bekommen, nimmt Laras Mutter Charlotte (Felicitas Woll) Kontakt zu den anderen deutschen Frauen auf der Seite auf, aber bei allen ist die Scham zunächst größer als die Wut. Als sie schließlich doch Erfolg hat, schlägt die dunkle Seite erbarmungslos zurück.
Anders als etwa in "Homevideo" (NDR 2011) wird die Geschichte (Buch: Anne-Marie Keßel) nicht aus Sicht der Tochter erzählt. Hauptfigur ist vielmehr Charlotte, die sich in einen aussichtslos scheinenden Kampf gegen Windmühlen stürzt und derart auf ihren Kreuzzug fixiert ist, dass sie völlig vergisst, sich um die traumatisierte Lara zu kümmern; ihre Ehe leidet ebenfalls. Trotzdem sind die Szenen mit Lara ungleich berührender. Beim Spießrutenlauf in der Schule lässt sich gleich zweimal unangenehm gut nachvollziehen, wie es dem Mädchen ergeht. Die junge Aleen Jana Kötter vermittelt Laras Unbehagen, das sich zur Panik steigert, vorzüglich; sie war schon als ältere Tochter in dem Drama "Nur eine Handvoll Leben" ganz ausgezeichnet. Felicitas Woll und Martin Gruber sind als Eltern vor allem zu Beginn überzeugend, als die Welt der Familie noch in Ordnung ist; später klingen die Dialoge nicht immer lebensnah vorgetragen. Woll gelingt es zudem nicht, an ihre herausragende Titelrolle in "Die Ungehorsame", einem erschütternden Sat.1-Drama über Gewalt in der Ehe, anzuknüpfen. Auch die Umsetzung weckt längst nicht so viel Empathie wie die anderen Internetfilme.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Keßler und Regisseur Jan Martin Scharf erzählen die Geschichte als Rückblende. "Nackt" beginnt auf dem Tiefpunkt, als Charlotte dem Nervenzusammenbruch nahe ist, mit einem Fleischermesser bewaffnet auf die nächtliche Straße rennt und eine junge Frau aus der Nachbarschaft, die mit ihrem Freund im Auto schmust, fast zu Tode erschreckt. Den Grund für diesen Ausraster verrät der Film viel später, als sich der Kreis wieder schließt: Ein Polizeiexperte für Internetkriminalität (Yung Ngo) hatte ihr geraten, auf verdächtige Autos zu achten. Als Charlotte durch die Jalousien nach draußen schaut, sehen die Lamellen wie Gitterstäbe aus. Bei einigen Einstellungen auf der Straße, als sie einen mit dem Smartphone filmenden Passanten attackiert, wirkt die Kamera wie an Wolls Körper befestigt, sodass automatisch eine große Nähe entsteht. Zum Abschluss der Szene steigt die Kamera vertikal in die Höhe; ein Bild, das in der Sprache des Films für den Tod steht. Das ist für lange Zeit das letzte Mal, dass Kameramann Markus Eckert Akzente setzt.
Natürlich soll ein derart packender Auftakt die Neugier wecken, aber er hat auch zur Folge, dass die Spannung anschließend wegsackt. Emotional wird es erst wieder, als Charlotte ihre Tochter belehrt, man müsse sich seinen Ängsten stellen; außerdem gebe es in der Schule niemanden, der ihr etwas Böses wolle. In Zeitlupe zeigt Scharf, was Lara nun erlebt: Anfangs gucken alle bloß komisch, dann gibt es die ersten anzüglichen Bemerkungen. Am schlimmsten ist der Verrat von Basti (Niklas Nißl), der nicht etwa zu ihr hält, sondern auf Distanz geht, sodass der Eindruck entsteht, er stecke hinter der Aktion. Ohnehin pflegt der Film einen seltsamen Umgang mit den potenziellen Verbündeten: Bei der Polizei unterstellt eine ältliche Beamtin, Lara habe die Fotos selbst ins Netz gestellt. Ähnlich unmotiviert unsympathisch verhält sich eine Hacker-Gruppe, die Charlotte äußerst arrogant abblitzen lässt, als sie die Jugendlichen bittet, die Website stillzulegen.
Einzige Mitstreiterin ist Amal (Jasmina Al Zihairi), auch sie ein Opfer von "Fuck my Ex". Dass sich die junge Frau Charlottes Kreuzzug anschließt, ist alles andere als selbstverständlich, denn sie hat viel mehr zu verlieren als Lara, was Keßler und Scharf seltsamerweise lange für sich behalten: Sie ist Muslima, ihr Vater ist Imam, ihre Mutter geht davon aus, dass sie eines Tages jungfräulich heiraten wird. Umso unglaubwürdiger wirkt es, dass Charlotte sich nicht um die Verbündete kümmert, als Amal völlig aufgelöst vor ihrer Haustür steht; so wird die Freundin zur tragischen Figur der Geschichte. Und es gibt weitere Leerstellen: Charlotte kämpft sich zum Geschäftsführer eines sozialen Netzwerks namens "Matebook" durch, um zu erreichen, dass er eine bestimmte Seite löscht, aber manch’ ein Zuschauer wird sich womöglich fragen, was die eine Website mit der anderen zu tun hat. Wie es ihr als Computeramateurin gelingt, die Adressen der weiteren Opfer (unter anderem Grit Boettcher in einer überraschenden Rolle) rauszufinden, bleibt ebenfalls ein Geheimnis.
Immerhin verschaffen die Bemühungen des Justizministeriums, Netzwerke wie Facebook notfalls mit juristischen Mitteln zu größerer sozialer Verantwortung zu zwingen, dem Film eine unverhoffte Aktualität. Angesicht dieser Relevanz und der Ernsthaftigkeit, mit der das Drama die Thematik behandelt, ist der Titel mit seinem plakativen Reizwort "Nackt" erstaunlich plump. Dazu passt, dass Scharf Laras Nacktfotos unnötig oft zeigt. Sat.1 versichert jedoch, auf den Bildern sei "selbstverständlich nicht" Aleen Jana Kötter zu sehen. Es handele sich um eine Montage, die auf der Basis von Modelfotos entstanden und so bearbeitet worden sei, dass der Körper keiner reellen Person zugeordnet werden könne.