Gefilmt wie ein Ego-Shooter-Computerspiel, bei dem die Handlung konsequent aus der subjektiven Perspektive des Spielers gezeigt wird, stürmt ein mit Wolfsmaske maskierter Mann ein Fitness-Studio und schießt scheinbar wahllos auf jeden, der ihm vor die Pistole kommt. Was wie ein Amoklauf wirkt, entpuppt sich jedoch als kaltblütiger Mord, denn das Ziel der Aktion ist die Hinrichtung eines hohen Tiers beim Landeskriminalamts Kiel: Jürgen Sternow war der Leiter der Abteilung Cybercrime, die Verbrechen im Internet bekämpfen soll. Als Borowski (Axel Milberg) und Sarah Brandt (Sibel Kekilli) die Mitarbeiter Sternows kennenlernen, zeigt der Film seine andere Seite: Die Abteilung ist in einem riesigen Raum untergebracht, der jedoch wie leergefegt wirkt. Ganz am Ende hocken zwei eher unbedarft anmutende junge Männer namens Cao und Dennis (Yung Ngo, Mirco Kreibich). Es handele sich keineswegs um Nerds, versichert der bärbeißige LKA-Chef (Michael Rastl), der Nerds wie Nerz ausspricht. Aber selbstredend sind sie genau dies, was noch zu einigen skurrilen Situationen führen wird, zumal es fast absurd wirkt, dass sich die beiden an Brandt ranmachen.
Fortan ist „Borowski und das dunkle Netz“ eine überaus geglückte Gratwanderung. Der Film erzählt einen klassischen Krimi, denn bei dem Mörder handelt es sich um einen gedungenen Killer, und die Spur führt ausgerechnet ins LKA. Gleichzeitig ist die Geschichte immer wieder mit tiefschwarzem Humor gewürzt. Vor allem jedoch ist es gelungen, die vielen Fachbegriffe zu erklären, ohne dabei in den Duktus eines Volkshochschulkurses für den kleinen Internetführerschein zu verfallen. Klaus Borowski - und mit ihm viele „Tatort“-Zuschauer – verfügt zwar über ein gewisses Grundwissen, aber das sogenannte Darknet, jene Untiefen, in denen sich unter anderem allerlei Gesindel tummelt, ist auch für ihn Neuland. Hier hat der mysteriöse Auftraggeber den Killer engagiert, hier kommunizieren die beiden auch miteinander. Die Ausführungen der Cybercrime-Nerds erfolgen in Form einer kurzen animierten Sequenz: Aus Borowski wird eine Computerfigur, die sich gemeinsam mit Dennis in die dunkle Seite des Netzes stürzt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Aber auch im Diesseits tut sich Einiges, weil der Film parallel zu den Nachforschungen des Ermittlerduos erzählt, wie es dem Wolfsmann (Maximilian Brauer) weiter ergeht: Er wird im Hotel mit den Avancen von Zimmermädchen Rosi konfrontiert und verliert aufgrund eines Missgeschicks einen kleinen Finger, weshalb die dralle Rosi ihre Chance auf ein sexuelles Abenteuer beim Schopfe packt; Svenja Hermuth spielt das sehr mutig und versieht diese Figur mit einer ganz eigenen Tragik, zumal ihr Glück nur von äußerst kurzer Dauer ist. Derweil ärgert sich Brandt wieder mal über Borowskis Unfähigkeit, ihre Leistungen anzuerkennen; kein Wunder, dass der Abwerbeversuch von Staatsanwalt Austerlitz (Jochen Hägele), der der äußerst computeraffinen Kommissarin gern die verwaiste Cybercrime-Leitung anvertrauen würde, auf fruchtbaren Boden fällt, zumal der smarte Jurist auch sonst gute Karten bei ihr hat.
Das Drehbuch zu diesem Film stammt von Thomas Wendrich (für seinen Beitrag zur „NSU“-Trilogie mit dem Grimme-Preis geehrt), aber die interessantere Personalie ist sein Koautor. Regisseur David Wnendt hat zuvor gerade mal drei Filme gedreht, doch die hatten es ausnahmslos in sich: Auf sein erschütterndes Neonazi-Drama „Kriegerin“ folgte als Kontrastprogramm die Verfilmung von Charlotte Roches Erfolgsroman „Feuchtgebiete“ und schließlich mit der Hitler-Wiederauferstehung „Er ist wieder da“ eine weitere Bestsellerverfilmung. Wnendts TV-Debüt ist erneut ein völlig anderer Film geworden, aber sein außerordentliches Talent ist auch diesmal unverkennbar. Der „Tatort“ ist nicht nur wegen der vorzüglichen darstellerischen Leistungen, sondern auch in ästhetischer Hinsicht sehenswert ist, weil die Anmutung (Bildgestaltung: Benedict Neuenfels) ungewöhnlich farbenfroh ist. Dass Wnendt auch Action kann, beweist er mit einer aufwändigen Verfolgungsjagd, bei der nicht nur in rasantem Tempo die Schauplätze wechseln; sie endet zudem in der vollbesetzten Arena des THW Kiel. Nicht nur in dieser Szene setzt die wuchtige Musik (Enis Rotthoff) markante Akzente. Den meisten Spaß macht „Borowski und das dunkle Netz“ jedoch wegen der über weite Strecken reizvoll verrätselten Geschichte und des stellenweise grimmigen Humors, der auch die beiden Hauptfiguren nicht verschont, dem Schurken ein makabres Ende bereitet und für eine passende Schlusspointe sorgt. Kurz vor dem angemessen dramatischen Finale erfreut Wnendt zudem mit einem Übergang (von Schakalfalle zu Kreisverkehr) zum Niederknien.