Das Drehbuch von Matthias Tuchmann und Stefanie Veith verzichtet zwar auf übersinnliche Elemente, aber dafür ist die Geschichte sogar noch perfider, denn hier ist der Mörder mit einem Tarnkappenbomber auf vier Rädern unterwegs: Die spezielle Lackierung des Wagens macht ihn für Radarfallen unsichtbar. Dank des Elektromotors gleitet der aufgemotzte BMW lautlos durch die Dunkelheit, wenn der Fahrer Jagd auf seine Opfer macht; und weil der Mann ein Nachtsichtgerät trägt, sind auch die Scheinwerfer ausgeschaltet.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Florian Baxmeyer, seit einigen Jahren Stammregisseur beim "Tatort" aus Bremen, inszeniert die entsprechenden Passagen wie einen Horrorfilm. Schon mit dem Auftakt, als er eine Autowäsche in Zeitlupe und zu rockiger Musik zelebriert, verdeutlicht der Regisseur, dass ihm ein ganz besonderer Sonntagskrimi vorschwebte. Dieses Vorhaben hat er erfolgreich umgesetzt; aber leider nur in der ersten Hälfte. 45 Minuten ist "Nachtsicht" ein Film, wie es ihn bislang noch nicht gab; und dann geht Baxmeyer die Geschichte aus. Solange Lürsen und Stedefreund (Sabine Postel, Oliver Mommsen) im Dunkeln tappen, ist der Krimi spannend, filmisch interessant und originell. Als jedoch die Identität des Täters (Moritz Führmann) feststeht und das Ermittlerduo nur noch entsprechende Beweise braucht, wandelt sich die Handlung zum Familiendrama, weil nun die Eltern des Mannes ins Zentrum rücken: Jost Friedland (Rainer Bock) würde alles für seine unheilbar an Krebs erkrankte Frau Leonie (Angela Roy) tun; wenn es sein muss, auch den eigenen Sohn aus dem Weg räumen. Die Figuren sind durchaus interessant, aber es wird nicht ganz klar, warum sich der Film so eingehend mit ihnen beschäftigt. Dass Leonie vor vielen Jahren ein Bein verloren hat und der Gatte ihr liebevoll den Stumpf massiert, ist nicht mehr als ein ausgefallenes Detail. Es gibt eine weitere bewegende Szene dieser Art, als Friedland seiner Frau trotz des Anblicks der durch die Brustamputationen entstandenen Narben beteuert, er finde sie schön. Vermutlich wollten Buch und Regie durch diese Bilder die tiefe Liebe des Mannes zum Ausdruck bringen, aber im Rahmen des Krimis wirken sie dennoch deplatziert.
Die Konzentration auf die Eltern führt auch deshalb von der eigentlichen Geschichte weg, weil der Täter dadurch auf seine Tat reduziert wird. Die Polizei findet zwar blutrünstige Zeichnungen, in denen der Mann als Jugendlicher seine Allmachtsfantasien ausgelegt hat, aber warum er später zum mehrfachen Mörder geworden ist, bleibt völlig offen. Eine weitere Figur, die Freundin des Mannes, kommt ebenfalls zu kurz; mit der in den letzten Jahren ziemlich viel beschäftigten Natalia Belitski ist diese Rolle im Grunde übersetzt. Es gibt noch weitere Ungereimtheiten: Dass der Rechtsmediziner (Matthias Brenner) die Morde buchstäblich zum Kotzen findet, macht ihn zwar menschlich, dürfte aber angesichts der sterblichen Überreste, mit denen es die Mitglieder dieses Berufsstands regelmäßig zu tun bekommen, eher unrealistisch sein. Immerhin ist die BKA-Kollegin Selb (Luise Wolfram) wieder mit von der Partie; sie hat dem "Tatort" aus Bremen schon in den Episoden "Der hundertste Affe" und "Echolot" ziemlich gut getan. Die Dame ist etwas schräg, was völlig in Ordnung ist. Dass sie die Mordserie "cool" findet, ist allerdings zuviel des Guten.
Unterm Strich erinnert "Nachtsicht" daher an Pokalspiele, die schon zur Pause entschieden sind, weshalb das siegreiche Team auf eine mitreißende erste Halbzeit eine gemächliche zweite folgen lässt. Schon allein die geradezu liebevolle Gestaltung des Mordboliden, der mit Plexiglasfenster im Unterboden, Todesdorn und einer viele PS vortäuschenden Soundanlage versehen ist, hätte es verdient, dass das Auto nicht schon zur Hälfte aus dem Verkehr gezogen wird.