Neben der künstlerischen Komponente verdient auch die enorme Belastung aller Beteiligten eine Würdigung: Die Filme werden größtenteils nachts gedreht. Deshalb wird das Revier des Kriminaldauerdienstes Hamburg auch diesmal wieder zur Anlaufstelle für das Strandgut des nächtlichen Großstadttreibens. Mindestens so reizvoll wie der Facettenreichtum der Handlung mit ihren vielen Nebenschauplätzen ist die Konstruktion des Drehbuchs, weil sich nach und nach alle Beteiligten in der gläsernen KDD-Zelle einfinden; vorausgesetzt, sie haben zuvor nicht das Zeitliche gesegnet.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Rückgrat des Films ist allerdings akustischer Natur. "Wir sind alle keine Engel" beginnt mit einer metropolischen Schnittkaskade, die eine Radiosendung illustriert: Moderatorin Milla (Kajta Bauerfeind) fordert ihre Hörerschaft auf, Trennungsgeschichten zu erzählen. Pizzafahrer Mufti (Arnel Taci) nutzt die Gelegenheit, um auf diese Weise mit seiner Freundin Sharronda (Alina Levshin) Schluss zu machen. Die ist geschockt, schnappt sich eine Pistole, ballert in die Decke und stürmt in das Blumengeschäft ihrer früheren Arbeitgeberin (Chiara Schoras). Weil Sharrondas Nachbarn die Polizei alarmiert haben, entdecken Lisa Brenner (Barbara Auer) und Erich Erichsen (Armin Rohde) in einer Wohnung einen Toten, der ein Foto in der Hand hält; selbstverständlich wissen sie in diesem Moment noch nicht, dass diese Hinrichtung bloß der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Morden sein soll. Auch darin besteht ja der Reiz der Reihe: Wenn die Beamten abends ihren Dienst antreten, haben sie keine Ahnung, wie turbulent sich die Nacht entwickeln wird. Mufti zum Beispiel wird seine Radioaktion noch bitter bereuen, denn er ist der nächste auf der Liste; und dann will sich der Mörder Millas Chef vom Dienst (Hans-Jochen Wagner) vornehmen.
Die Erklärung für die Taten ist ein bisschen dünn und erinnert an amerikanische Produktionen, in denen der Nervenkitzel wichtiger ist als die psychologischen Motive des Mörders. Andererseits ist auch die Umsetzung sehr kinogemäß; vermutlich würden die "Nachtschicht"-Filme ihr ganzes Potenzial ohnehin erst auf einer Leinwand entfalten. Dank der durchgehenden Talkradio-Elemente untermalt Becker die Filmbilder mit vielen Pop- und Rocksongs, so dass die vortreffliche Musik von Stefan Wulff und Hinrich Dageför fast ins Hintertreffen gerät. Endgültig zum Leckerbissen wird "Wir sind alle keine Engel" durch die darstellerischen Leistungen. Nicht umsonst gilt Becker als Regisseur, für den viele Schauspieler selbst mit kleinen Sprechrollen vorlieb nehmen würden. Neben dem festen Ensemble, aus dem auch Özgür Karadeniz (als Chef von Brenne rund Erichsen) hervorzuheben ist, verdienen diesmal vor allem Edin Hasanovic und Tristan Seith als Sharrondas beschränkte Nazi-Brüder Gordon und Dexter eine besondere Erwähnung.