Die Handlung beginnt mit einem obskuren Sexunfall: Der Sylter Nachtclubbesitzer Ronny hat sich offenbar während der Selbstbefriedigung aus Gründen der Luststeigerung stranguliert und ist anschließend die Treppe runtergestürzt. Die Nachstellung der vermeintlichen One-Man-Show ergibt jedoch, dass Ronny zuvor mit beiden Handgelenken an einen Handlauf gefesselt war; Masturbieren ist auf diese Weise zumindest schwierig. Außerdem sind ihm zuvor K.o.-Tropfen verabreicht worden. Clüver (Robert Atzorn) und sein Team müssen also einen Mörder suchen, und jetzt wird der Fall interessant, denn der Hauptkommissar und sein Mitarbeiter Feldmann dürften im Grunde gar nicht ermitteln.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Drehbuch der beiden als Schöpfer des "Tatort"-Duos aus Münster bekannten und beliebten Autoren folgt nun zwar dem üblichen Krimimuster, weil sich die Ermittler mit gleich sechs Verdächtigen rumplagen müssen, aber viel wichtiger sind die personellen Konstellationen. Als erstes besuchen Clüver und Ina Behrendsen (Julia Brendler) vier junge Frauen, die in der Nacht gemeinsam mit dem Opfer Junggesellinnenabschied gefeiert haben. Überraschenderweise taucht aus dem Keller des Ferienhauses auch Feldmann auf, jedoch nicht als Ermittler, sondern als Beteiligter: Er war ebenfalls dabei, hat aber einen kompletten Filmriss und kann sich genauso wie die Frauen an nichts mehr erinnern, was die Damen dennoch nicht von dem Verdacht befreit, irgendwas mit dem Mord zu tun zu haben. Ein ungleich dankbarerer Verdächtiger ist jedoch ein Mann, der die Nacht vor dem Haus im Auto verbracht hat: Mark Seitz (Nikolai Kinski) ist der Exfreund der zukünftigen Braut und erwiesenermaßen krankhaft eifersüchtig. Zu Clüvers Bedauern gibt es aber eine weitere Person mit Motiv: Jamila (Carolina Vera) kommt aus Aleppo, wartet auf ihre Anerkennung als Flüchtling, hat illegal bei Ronny geputzt und musste sich seiner zunehmenden Zudringlichkeit erwehren. Der Mann entpuppt sich ohnehin mehr und mehr als abgrundtief unsympathische Figur, die niemand vermissen wird.
Trotz dieser durchaus interessanten Gemengelage wäre die Geschichte allein kein Grund, diese fünfte Episode aus der Reihe "Nord Nord Mord" als besonders gelungene Krimikomödie zu empfinden. Richtig reizvoll wird der Film erst durch die Kleinodien, die gerade Wnuk immer wieder scheinbar aus dem Ärmel schüttet. Eigentlich ist Feldmann ein unerträglicher Klugscheißer, was ihm die Kollegin und Mitbewohnerin Behrendsen auch regelmäßig zu verstehen gibt; erst recht, wenn er mit seinem auf diversen Fortbildungen erlangten Wissen prahlt und mit Fachbegriffen nervt. Trotzdem gelingt es Wnuk, diesem Besserwisser immer wieder sympathische Seiten abzugewinnen. Natürlich ist auch nicht zu übersehen, dass der Kollegin die vermeintliche Orgie mehr als bloß ein Dorn im Auge ist, und das keineswegs aus Gründen der Tugendhaftigkeit.
Die Besetzung der Gastrollen wiederum trägt ihren Teil dazu bei, dass lange offen bleibt, wer die Tat denn nun begangen hat. Der Stalker steht auf der Liste ganz oben, schließlich ist die Filmografie Nikolai Kinskis mit Schurkenrollen gespickt. Jamila wiederum ist eine derart liebenswerte Frau, dass sie schon allein deshalb verdächtig sein muss. Cantz und Hinter nutzen die Figur, um ein typisches Flüchtlingsschicksal zu erzählen, und plötzlich hält die Wirklichkeit Einzug in den unterhaltsamen Krimiabend: Mann, Sohn und Tochter sind bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen; geblieben ist ihr nur ein zweiter Sohn. Jamila hat in Heidelberg studiert und kann daher besser deutsch als viele der Menschen, die "Deutschland den Deutschen" vorbehalten wollen. Clüver, der die Syrerin im Flüchtlingsheim besucht, einen fröhlichen Abend mit den Menschen dort verbringt und selbstredend darüber hinwegsieht, dass die Frau gar nicht arbeiten darf, muss sie und ihren Sohn zu seinem großen Bedauern ebenfalls in den Reigen der Verdächtigen aufnehmen.
Viele kleine Zwischenmenschlichkeiten
Leider sind die vier jungen Frauen nicht annähernd so gut besetzt wie die Syrerin, und das bezieht sich keineswegs nur auf die fehlende Prominenz. Einzig Karoline Teska ragt aus dem Quartett heraus; prompt spielt ihre Figur bei dem Mord eine spezielle Rolle. Besonders viel Herz zeigen Cantz und Hinter für den Streifenpolizisten Lund, was Waldemar Kobus einige unverwechselbare Auftritte verschafft. Gleiches gilt für Rainer Piwek als Geschäftsführer des Clubs, der offenbar nach Phrasen bezahlt wird und aus seiner Abneigung gegen den verstorbenen Chef keinerlei Hehl macht. Ihm haben die Autoren den schönen Namen Turtur gegeben, und wer sich noch an die Abenteuer von Jim Knopf erinnert, der weiß, dass Herr Turtur ein Scheinriese ist und daher nicht als Mörder in Frage kommt.
Es ist zwar keineswegs so, dass der Mordfall bloß Vorwand für die vielen kleinen Zwischenmenschlichkeiten wäre, aber sie sind auch mehr als bloß die Würze dieses Films. Gerade die Animositäten von Behrendsen sorgen dafür, dass es in den Szenen mit Feldmann kräftig knistert. Ungewöhnlich für einen vermeintlichen Familienkrimi ist auch der unverkrampfte Umgang mit dem Subthema Sex. Entsprechende Devotionalien spielen eine nicht unwichtige Rolle, von der Rekonstruktion der Tatumstände ganz zu schweigen, zumal die per Video zugeschaltete Rechtsmedizinerin über die Folgen von Sexunfällen promoviert hat. Der Pornofilm im TV, den die Kamera im Haus des Opfers zu Beginn beiläufig erfasst, liefert einen kleinen Vorgeschmack. Diese Eröffnungsfahrt dauert über eine Minute und ist ein kleines Kunstwerk: Moritz Anton beginnt die Fahrt vor dem Haus, dann schraubt sich die Kamera bis auf Höhe des zweiten Stocks, gleitet durch ein Fenster, registriert die Spuren des vermeintlich erotischen Arrangements und endet bei dem tot am Fuß der Treppe liegenden Ronny. Auch im weiteren Verlauf des Films beeindruckt Anton durch eine Kameraarbeit, die zwar agil ist, sich aber nie wichtiger als die Handlung nimmt. Das Schönste sind trotzdem die Dialoge ("Wie, tot?" "Sehr tot") sowie die völlig belanglosen, aber amüsanten Details am Rande: Mal rutscht jemand aus, mal kriegt jemand die Tür nicht auf. Die Auflösung wirkt ein wenig wie aus dem Hut gezaubert, aber Cantz und Hinter sind versiert genug und haben das Kaninchen beizeiten im Zylinder deponiert.