"Die Wunde wurde in Berlin nicht zugedeckt"

Bischof Markus Dröge spricht in der Gedächtniskirche in Berlin bei einem Trauergottesdienst zum Gedenken an die Opfer des Anschlags vom 19.12.2016.
Foto: dpa/Michael Kappeler
Bischof Markus Dröge beim Trauergottesdienst
"Die Wunde wurde in Berlin nicht zugedeckt"
Ansprache von Markus Dröge, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, im ökumenischen Trauer-und Fürbittgottesdienst für die Opfer des Anschlages auf den Weihnachtsmarkt. Dröge hielt die Ansprache am 20. Dezember 2016 in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin.

Liebe trauernde Mitbürgerinnen und Mitbürger,

liebe Schwestern und Brüder,

grausam wurden wir gestern Abend aus der vorweihnachtlichen Stimmung gerissen. Während hier in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche der Bach-Chor seine Stücke für das Weihnachtsfest geprobt hat, haben auf dem Weihnachtsmarkt durch eine Terror-Tat Menschen das Leben verloren oder sind verletzt, zum Teil schwer verletzt worden.

Wir sind heute hier zusammengekommen, um der Opfer zu gedenken und um den Trauernden zu zeigen: Ihr seid nicht alleine in eurer Trauer. Wir stehen an eurer Seite bei eurem tiefen Schmerz. Wir sind versammelt, um den Verletzten ein Zeichen der Hoffnung zu schenken: Wir beten für euch.

Aber wir können auch unserer Fragen nicht unterdrücken. Was ist genau geschehen? Warum konnte das passieren? Wer steckt hinter dieser Tat? In all dem Schrecken des gestrigen Abends bin ich dankbar, dass die Sicherheitskräfte, die Rettungsteams und die Notfallseelsorge so schnell und umsichtig reagiert haben. Sie haben Hilfe geleistet, dafür gesorgt, dass keine Panik ausbricht. Haben sich an die Arbeit gemacht, um die Fragen nach dem Was und nach dem Warum zu beantworten. Und das ist wichtig. Es wird aber Zeit brauchen, um diese Fragen zu beantworten und manches wird vielleicht auch offen bleiben.

"Wie soll ich dich empfangen und wie begegn ich dir?" So haben wir gesungen. Jetzt in den Tagen vor Weihnachten fragen wir: Wie soll es denn jetzt überhaupt noch Weihnachten werden? In den Familien, die gestern einen lieben Menschen verloren haben? Oder für diejenigen, die den Schrecken des gestrigen Abends nun nicht mehr loswerden? Ich bete für die Familien und Angehörigen. Ich bin in Gedanken bei den Verletzten, den Trauernden und den Hoffnungslosen. Seit gestern Abend gehen sie mir nicht mehr aus dem Herzen, und ich glaube, es geht vielen so. Wir fragen: Wie soll es nur weitergehen angesichts von Leid und Schmerzen, angesichts einer Welt, die durch Krieg und Zerstörung immer größere Wunden aufweist? Wie können wir unsere Freiheit, unsere Offenheit bewahren, unsere Lebensfreude und unsere Menschenliebe?

Eine vorläufige, eine verletzliche Antwort ist dieser Ort selbst, die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit ihrem Turm, mit der offenen Wunde mitten in dieser Stadt. Berlin lebt mit dieser Wunde, die durch Gewalt und Krieg entstanden ist. Diese Kirche ist ein Mahnmal. Sie zeigt uns, was passiert, wenn Menschen ihrem Hass freien Lauf lassen, wenn sie die Wege der Gewalt bis ans Ende gehen. Diese Wunde wurde hier in Berlin nicht zugedeckt, nicht versteckt, sondern sichtbar gemacht. Und das ist jetzt für uns alle wichtig. Für uns alle, die wir Trauer, ja auch Wut in unseren Herzen tragen. Über solche Wunden kann kein Mensch schnell hinweggehen. Und deshalb bringen wir sie heute gemeinsam zum Ausdruck und stehen als trauernde Gemeinschaft zusammen und wir halten zusammen. Wir geben dem Terror nicht dadurch Recht, dass wir uns entzweien lassen, nur, weil wir aus unterschiedlichen Kulturen stammen oder auf verschiedene Weise unseren Glauben leben oder unsere Weltanschauung pflegen.

In den Weihnachtsgottesdiensten, die in den Kirchen am kommenden Wochenende gefeiert werden, wird für die Gestorbenen, die Verletzten und die Trauernden gebetet werden. Und es wird die Botschaft von der Menschlichkeit Gottes neu erklingen. Denn wir lassen und nicht zur Unmenschlichkeit verführen. Auch dafür steht die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Sie gehört zur weltweiten Bewegung der Nagelkreuzgemeinschaft. In der dunkelsten Stunde der Stadt Coventry in England, als sie im Zweiten Weltkrieg zerbombt wurde, als Hass und Vergeltungswünsche die Herzen der Menschen bewegten, da hat ein Pfarrer mitten in der zerstörten Kathedrale aus herumliegenden Zimmermannsnägeln ein Kreuz geformt, als Zeichen dafür, dass die Kraft der Versöhnung stärker ist als der Hass - das Kreuz von Coventry. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist Teil der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft und hat sich damit der Versöhnung und dem Frieden verschrieben. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, angesichts von Krieg und Gewalt mit Versöhnung und Frieden zu antworten.

Mit dem gestrigen Abend wurde dem Breitscheidplatz, der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, ja unserer ganzen Gesellschaft eine Wunde zugefügt und der Schmerz brennt. Aber diese Kirche wird weiter ihre Botschaft in die Welt tragen. Sie wird gerade jetzt wieder neu mahnen und zeigen, wohin es führt, wenn Menschen sich der Gewalt hingeben. Und sie wird unbeirrt bezeugen, dass die Kraft der Versöhnung stärker ist als der Hass. Diese Botschaft ist unser Trost. Mit dieser Botschaft können wir leben und werden wir leben und werden die Gewalt überwinden.

Amen.