"Abenteuerfilm, Liebesgeschichte, Sozialdrama" verspricht das ZDF mit diesem historischen Adventszweiteiler. Die Beschreibung passt perfekt, aber "Gotthard" ist sogar noch etwas mehr, denn das Drehbuch von Stefan Dähnert verblüfft durch einige aktuelle Bezüge. Schauplatz weiter Teile der Geschichte ist Göschenen, vor knapp 150 Jahren ein Dorf mit dreihundert Einwohnern. Hier will der Unternehmer Favre eine epochale Vision realisieren und einen Tunnel quer durch den Gotthard bohren. Doch das Jahrhundertprojekt hat immer wieder mit Schwierigkeiten zu kämpfen, denn der Berg widersetzt sich; das harte Gestein lässt einen Bohrer nach dem anderen zerbrechen. Favre geht eine riskante Wette auf die Zukunft ein und überzeugt die Geldgeber, in das gerade erst erfundene Dynamit zu investieren. Während diese Hürde genommen werden kann, gibt es regelmäßig Ärger mit den Arbeitern, erst recht, als Favre wieder mal das Geld ausgeht.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dähnert, zu dessen besten Arbeiten ein Doppel-"Tatort" aus Hannover ("Wegwerfmädchen"/"Das goldene Band") gehört, erzählt die Geschichte aus der Perspektive eines jungen Mannes aus dem Schwarzwald: Max (Maxim Mehmet) ist angehender Ingenieur und sieht in Favres Projekt die Chance, Teil von etwas ganz Großem zu werden. Er verliebt sich in die Fuhrmannstochter Anna (Miriam Stein) und löst mit ihrer Hilfe ein dringendes Transportproblem. Seine Warnungen vor einer Einsturzgefahr des Tunnels verhallen jedoch ungehört. Als es tatsächlich zur Katastrophe kommt, begreift Favre, welches Potenzial in dem jungen Mann steckt, und befördert ihn in die Zentrale nach Luzern. Dort kommt Max schließlich auch auf eine brillante Lösung für die Geldprobleme des Unternehmens: Er erfindet den "Favre-Franken" und will die Arbeiter auf diese Weise an der Firma beteiligen. Nun ist es an ihnen, eine Wette auf die Zukunft einzugehen: Führen sie das Projekt zu Ende, winkt ihnen viel Geld; geht Favre pleite, stehen sie mit leeren Händen da.
Der vielfach ausgezeichnete Schweizer Urs Egger (zuletzt Grimme-Preis für "Der Fall Bruckner") hat die Geschichte des ersten Alpentunnels als episches Werk mit großem Aufwand umgesetzt; gerade die Szenen im Tunnel bebildern seriös, unter welchen Bedingungen die überwiegend aus dem Piemont stammenden Minenarbeiter arbeiten mussten. Gerade in diesen Momenten entfaltet die Musik von Fabian Römer große Wirkung. Im Unterschied zu anderen Heimatdramen verzichten Egger und sein Kameramann Lukas Strebel fast vollständig für die eigentlich obligaten Panoramabilder. Bei der Ausstattung wurde großer Wert auf Authentizität gelegt, aber dank einer fast dokumentarischen Bildgestaltung sind Kostüme und Material nie wichtiger als die Handlung.
Filmisches Denkmal
Mindestens genauso viel Bedeutung bekommt jedoch die persönliche Ebene. Maxim Mehmet ist eine gute Besetzung für den Ingenieur, der es nicht wagt, Anna seine Liebe zu gestehen, und die Frau stattdessen seinem besten Freund Tommaso (Pasquale Aleardi) überlässt. Der ebenso lebenslustige wie charismatische Italiener ist die schillerndste Figur des Films. Anfangs, als sich die beiden unterschiedlichen Männer angesichts des letzten freien Betts im Ort widerwillig zusammenraufen, gibt es sogar heitere und unbeschwerte Momente. Das ändert sich, als Tommaso zum Wortführer der Arbeiter wird, um gegen die Missstände zu protestieren. Schließlich wird er als Rädelsführer ohne Lohn entlassen; nun droht seine Ausweisung. Anna wiederum will eine Pension für die Arbeiter betreiben, darf aber als Frau nicht Unternehmerin werden, und ausgerechnet Max hat eine Idee, mit der beiden geholfen ist. Als er drei Jahre später aus Luzern zurückkehrt, wird ihm klar, dass dies der größte Fehler seines Lebens war, doch selbst eine gemeinsame Nacht mit Anna kann seiner Freundschaft zu Tommaso nichts anhaben. Das ändert sich, als immer mehr Arbeiter auf rätselhafte Weise ums Leben kommen, der firmeneigene Arzt aber bloß "Staublunge" auf die Totenscheine schreibt. Als es zum Arbeiteraufstand kommt, stehen die Freunde endgültig auf verschiedenen Seiten; erst recht, als Max die Kavallerie zu Hilfe ruft und Schüsse fallen.
Es gibt spektakuläre Bilder und sehenswerte Schauspieler; neben den drei ausgezeichneten Hauptdarstellern gilt dies vor allem für Joachim Król als leitender Bauingenieur (im ersten Teil), Roeland Wiesnekker als unsympathischer uniformierter Repräsentant der Obrigkeit sowie Carlos Leal als melancholischer Visionär, der den Durchstich am Schluss nicht mehr erlebt. Die größte Qualität dieses auch mit knapp 180 Minuten nicht zu langen Films ist jedoch die geschickte Verknüpfung der verschiedenen Erzählebenen. Freundschaft und Liebe haben den gleichen Stellenwert wie der Pioniergeist der Tunnelbaubetreiber, der an den zur gleichen Zeit stattfindenden Bau der Eisenbahn in Nordamerika erinnert. Die Eingeborenen werden zwar nicht ausgerottet, aber auch für sie wird sich das Leben grundlegend verändern, weshalb sie dem Projekt wie auch den Fremden ausgesprochen feindlich gegenüberstehen. Sie haben keinerlei Interesse daran, dass ihr Dorf in gewisser Weise das Tor zur Welt wird, weil die Politiker die Schweiz aus ihrem Gebirgsgefängnis befreien will, und spätestens in dieser Hinsicht sind die Parallelen zur Gegenwart verblüffend. Aber auch die Schilderung der unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen kommt nicht zu kurz; die "Mineure" schlafen und schuften in Schichten. Auf diese Weise wird "Gotthard" auch zu einem filmischen Denkmal für die weit über tausend Menschenleben, die der Tunnelbau gekostet hat. Den zweiten Teil zeigt das ZDF am Mittwoch.