Yusuf Osman hat nicht so viel Glück gehabt, wie die jungen Sportler, die heute in Nairobi leben und trainieren. Der 20-Jährige mit dem gleichmäßigen aber viel zu schmalen Gesicht kann sich nur schwer auf den eigenen Beinen halten. Er stützt sich auf die langen Krücken und setzt zaghaft einen Fuß vor den anderen, blickt zweifelnd nach unten, so als würde er seinem eigenen Körper nicht ganz trauen.
Ein paar Schritte noch, dann lässt sich Yusuf auf einen olivgrünen Plastikstuhl fallen. Yusuf ist zur Kontrolle in das Gesundheitszentrum gekommen. Seine Mutter Fatuma Ebo nimmt ihm die Krücken ab und setzt sich neben ihn. Yusuf kennt seit er denken kann nur das Flüchtlingslager in der Buschwüste im Nordwesten Kenias: viel Staub, wenig Wasser und kaum Perspektiven für junge Menschen wie ihn. "Ich würde gerne studieren oder einen Beruf lernen", sagt er. "Aber wegen meiner Krankheit habe ich mich so geschämt, dass ich seit drei Jahren nicht mehr zu Schule gegangen bin".
Fatumas Fluchtgeschichte beginnt 1992
Fatuma Ebo ist 44 Jahre alt, sie stammt wie rund jeder zweite Flüchtling in Kenia aus dem Nachbarland Somalia. Andere kamen aus Burundi, dem Kongo oder Äthiopien – und seitdem im Südsudan ein blutiger Bürgerkrieg ausgebrochen ist, haben sich Zehntausende von dort über die Grenze nach Kenia in Sicherheit gebracht. Ein Großteil der Flüchtlinge lebt in zwei Lagern im Norden des Landes: Dadaab und Kakuma.
Mit über 600.000 Menschen hat Kenia deutlich mehr Flüchtlinge aufgenommen als viele europäische Staaten. Doch im Mai diesen Jahres gab die Regierung in Nairobi bekannt, Dadaab, das größere der beiden Lager, schließen zu wollen und möglichst alle Somalier zurückzuschicken. Die Begründung: Die somalische Terrormiliz al-Shabaab nutze die Camps, vor allem Dadaab, um Anschläge auf kenianischem Boden vorzubereiten. Zudem habe sich die Lage in Somalia in den vergangenen Jahren stabilisiert. Kenias Regierung hofft deshalb auf eine freiwillige Rückkehr der Flüchtlinge. Fatuma Ebo aber will nicht zurück. Und sie hat noch einen Trumpf in der Hand, der ihr Hoffnung gibt.
Fatumas Fluchtgeschichte beginnt 1992 und geht in der Kurzfassung so: Die junge Frau lebte in einem Küstendorf im Süden, nahe der kenianischen Grenze. Ein Jahr zuvor war in Somalia ein Bürgerkrieg ausgebrochen, der das Land ins Chaos stürzte und manche Regionen bis heute nicht loslässt. Als Bewaffnete eines Nachts ihre Mutter aus dem Bett jagten und erschossen, konnte sie gerade noch entkommen. Sie lief an den Strand und traf dort einen jungen Fischer. Er habe ihr ein Angebot gemacht, erzählt sie: "Ich fahre dich mit meinem Boot über die Grenze, aber nur wenn du mich heiratest." Sie habe nicht lange überlegt, sagt Fatuma.
"Wir leben seit mehr als zwei Jahrzehnten fast nur von Almosen"
Das junge Ehepaar landete in einem Lager an der kenianischen Küste. Als dieses 1997 geschlossen wurde, musste die Familie mit zwei Söhnen nach Kakuma umsiedeln. Fatuma und ihr Ehemann bezogen dort eine kleine Hütte, ersetzten die Zeltwände nach und nach durch Lehmziegel, brachten zwei weitere Kinder zur Welt und erlebten wie das Lager wuchs und schrumpfte, je nachdem wo im östlichen und zentralen Afrika gerade Krieg oder Frieden herrschte oder wieder einmal eine Dürre ausgebrochen war. Eine stabile Existenz konnte sich die Familie aber nie aufbauen: "Wir leben seit mehr als zwei Jahrzehnten fast nur von Almosen", sagt Fatuma.
Kakuma ähnelt 25 Jahre nach seiner Gründung mit derzeit 200.000 Bewohnern mehr einer weitläufigen Siedlung als einem provisorischen Lager. Die Hütten aus Zeltplanen, Holz, Lehmziegeln und Wellblech sind an die Stromversorgung angeschlossen, es gibt Schulen, Kliniken, Kirchen, Moscheen und Märkte. Dort betreiben Bewohner Haarsalons, reparieren Handys und Motorräder und verkaufen in kleinen Läden alles von Tee über Süßigkeiten bis hin zu Kleidern.
Yusufs Vater fand einen Job als Sicherheitsmann in einer Grundschule. Weil aber Menschen mit Flüchtlingsstatus in Kenia nicht regulär arbeiten dürfen, erhält er nur einen Obolus von 45 Euro im Monat. Das reiche gerade mal, um die Ausgaben für Strom und die Koranschule zu decken, die die vier Kinder besuchen, sagt Fatuma.
Krankheit durch Mangelernährung
Einmal im Monat stellt sich die Familie bei der Nahrungsmittelverteilung durch das Welternährungsprogramm (WFP) an. Dort gibt es eine festgelegte Menge an Grundnahrungsmitteln: Getreide, Hülsenfrüchte, Speiseöl, ein mit Vitaminen angereicherter Soja-Mais-Mix und Seife. Das Essen sei trotzdem immer knapp, sagt Fatuma. Erst recht jetzt, Anfang Dezember, wo die Rationen von einem Monat auf den nächsten halbiert wurden, weil die Gelder der internationalen Geber nicht mehr ausreichen, wie das WFP meldet. "Was sollen wir tun, wenn wir nach der Hälfte des Monats nichts mehr zu essen haben?", klagt Fatuma.
Auch der zusätzliche Betrag, den die Bewohner seit vergangenem Jahr erhalten und per Handy-Überweisung ausgeben können, reiche nicht aus, das Loch zu stopfen: "Wir bekommen im Monat für sechs Leute 18 Euro. Damit können wir zusätzlich Reis, Gewürze und Tee kaufen, aber für Gemüse oder Milchprodukte bleibt uns kein Geld mehr".
Yusuf ist der chronische Mangel an den vorstehenden Backenknochen, den eingefallenen Schultern und den dünnen Armem anzusehen. Schon im Kindesalter hätten sich seine Beine verformt, vor allem das linke, erzählt Fatuma. Je älter er wurde, je stärker war er dadurch beeinträchtigt, konnte nicht mehr richtig laufen, wurde von den Kindern in der Schule gehänselt. Allein mit Vitaminen und Mineralstoffen lassen sich solche Fehlstellungen nicht behandeln. Nur eine Operation konnte Yusufs Gehprobleme noch beheben.
Möglich wurde das Anfang 2016, als im größten Gesundheitszentrum des Lagers ermstals othopädische Operationen durchgeführt wurden. Die Patienten werden dafür von lokalen Ärzten ausgewählt, für die Operationen werden an einzelnen Tagen Chirurgen von außerhalb eingeflogen. Im Herbst bekam Yusuf seinen Termin und sein linkes Bein wurde neu justiert. Bei der Kontrolluntersuchung in der von den Johannitern geförderten Klinik nickt der Arzt zufrieden, demnächst kann Yusuf mit der Physiotherapie beginnen und seine Muskulatur aufbauen. Er sei froh, dass er die Behandlung erhalten habe und hoffe, dass er bald wieder richtig laufen kann. "Dann werde ich auch wieder in die Schule gehen", sagt er. Dass Yusuf bald wieder gesund sein könnte, ist noch aus einem ganz anderen Grund wichtig für die Familie.
Als Kenias Regierung im Frühjahr die geplante Rückführung der Somalier bekannt gab, hatte die Familie schon andere Pläne. "Nach Somalia kann ich nicht zurück.", sagt Fatuma. "Ich habe keine Verwandten dort und kaum mehr Erinnerungen an das Land." Außerdem habe sie Angst, dass sie dort nicht sicher seien, weil die Terrormiliz al-Shabaab noch immer Teile des Landes kontrolliere.
"Ich hoffe für meine Kinder, dass wir in den USA eine Chance bekommen"
Stattdessen hoffen Yusuf und Fatuma, dass ihr Antrag auf Aufnahme in die USA endlich durchkommt. Die Vereinigten Staaten haben im Rahmen eines Umsiedlungsprogramms seit 2001 rund 70.000 Somalier aufgenommen. Vor drei Jahren hat die Familie die Bewerbung eingereicht. Es folgten Sicherheitschecks, Termine mit den Vertretern des Flüchtlingswerks, unzählige Emails, die sie in einem der Internetcafés beantworten mussten. Alles lief glatt, nur beim Gesundheitstest gab es kein Okay. Doch jetzt, wo Yusufs Behinderung bald ausgeheilt ist, könnte sie auch diese Hürde hinter sich lassen.
"Ich hoffe für meine Kinder, dass wir in den USA eine Chance bekommen", sagt Fatuma. Eine Garantie dafür hat sie nicht. Zwei Tage vor seiner Wahl zum US-Präsidenten drohte Donald Trump bei einer Rede, die Aufnahme von Flüchtlingen in die USA zu stoppen. Vor allem in jungen somalischen Einwanderern, in Männern wie Yusuf, sieht er eine Gefahr für die Sicherheit des Landes. Einmal mehr liegt die Zukunft von Fatuma und ihrer Familie in den Händen anderer.
Der Besuch im Flüchtlingslager Kakuma wurde ermöglicht von Aktion Deutschland Hilft.