Verehrerinnen des gleichnamigen Bestsellers von Kerstin Cantz werden sich womöglich mit Schaudern wenden: Autor Thorsten Wettcke ist bei seiner Adaption derart rigoros vorgegangen, dass "Die Hebamme" im Grunde nur noch auf Motiven der Vorlage beruht. Atmosphärisch bleibt Hannu Salonens knapp zwei Stunden lange Verfilmung dem Buch durchaus treu, und auch die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Hebammen und Ärzten sind ein Kernelement der Handlung geblieben. Dominiert wird sie allerdings durch einen Erzählstrang, der den Film zum Thriller macht: Ein Serienmörder hält die Stadt in Atem, und die ebenso kluge wie mutige Heldin Gesa ist ihm dem Killer näher, als ihr lieb sein kann.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Schon der Vorspann lässt keinen Zweifel daran, dass Wettcke und Salonen andere Schwerpunkte setzen als Cantz. Die Filmografie des seit langem in Deutschland lebenden Finnen ist gespickt mit "Tatort"-Beiträgen, und Wettcke hat für den Produzenten des Films, Oliver Berben, die sehenswerten Krimis "Rosa Roth: Der Schuss" und "Die Kronzeugin – Mord in den Bergen" geschrieben. Durch die entsprechende Ausrichtung mag sich "Die Hebamme" recht weit von der im Diana-Verlag erschienenen Vorlage entfernen, aber für ein breites Publikum wird genau darin der Reiz bestehen: weil dem Spannungsspezialisten Salonen dank der gemeinsamen Bildgestaltung mit Kameramann Wolf Siegelmann einen fesselnden historischen Krimi gedreht hat; die Illuminierung der nächtlichen Stadt ist ohnehin ein optischer Genuss.
Landstreicher als Hauptverdächtiger
Auch die Balance zwischen den verschiedenen Handlungsebenen ist gelungen: Gesa (Josefine Preuß), die junge Hauptfigur, macht sich 1799 nach dem Tod ihrer Mutter auf den Weg nach Marburg, wo sie sich von Elgin Gottschalk (Lisa Maria Potthoff) zur Hebamme ausbilden lassen soll. Die frühere Freundin der Mutter verweist sie jedoch ans örtliche Gebärhaus, eine Zuflucht für unverheiratete und daher ehrlose Schwangere. In erster Linie wird die Einrichtung jedoch genutzt, um angehenden Medizinern Anschauungsunterricht "am lebenden Objekt" zu geben, wie es Professor Kilian (Axel Milberg) formuliert; dabei nimmt der Medicus auch in Kauf, dass die Frauen im Verlauf des verzögerten Geburtsvorgangs fast verbluten. Ungleich mehr Philanthropie findet Gesa beim Anatom des Hauses: Clemens Heuser (Andreas Pietschmann) erweist sich seiner grausigen Sammlung aller nur denkbaren humanen Körperteile zum Trotz als Menschenfreund, in den sich die junge Frau prompt verliebt. Clemens ist es auch, der die Gerichtsbarkeit gleich zweimal auf die Spur jenes Unholdes bringt, der Marburg heimsucht: Ein Landstreicher (Vladimir Burlakov) versorgt ihn seit einiger Zeit mit den sterblichen Überresten von Selbstmörderinnen. Als Gesas Freundin Lotte (Alicia von Rittberg) beinahe von einem maskierten Mann erwürgt wird, kommt ihr der Gedanke, auch die früheren Todesfälle seien in Wirklichkeit Mordfälle; und selbstredend gilt der Landstreicher als Hauptverdächtiger.
Der Vorlage entsprechend stehen jedoch immer wieder die Geburten im Vordergrund. Auf diese Weise bietet die Geschichte eine reizvolle Mischung aus Leben und Tod. Gerade die fragwürdigen Praktiken des Medicus’, den Axel Milberg mit der provozierenden Selbstherrlichkeit des Medizinpioniers versieht, sind dabei von morbider Faszination. Nicht nur in diesen Szenen hat Ausstatterin Jana Karen erheblichen Anteil an der Glaubwürdigkeit der Filmbilder; auch das Gruselkabinett des Anatoms enthält eine Vielzahl von Kleinodien. Ohnehin schaffen Produktionsdesign, Kamera und Musik (Marcel Barsotti) eine überzeugende Atmosphäre für eine Epoche, in deren Kopf sich die aufklärerische Moderne vollzieht, während die Füße noch im Spätmittelalter stecken. Auch diese Ambiguität macht einen großen Reiz des Films aus.