Jedes Leben hat einen Anfang und ein Ende; jede Geschichte auch. Im Gegensatz zu Romanen oder Filmen erschließen sich Lebensgeschichten in der Regel jedoch nicht vom Schluss her; es sei denn, der Tod ist der Schlüssel zu diesem Leben. Wie das aussehen könnte, erzählt der Österreicher Götz Spielmann in seinem herausragenden Familiendrama "Oktober November". Hauptfigur Sonja Berger ist eine in Berlin lebende populäre Schauspielerin Anfang dreißig, die als öffentliche Figur perfekt funktioniert, hinter ihrer makellosen Fassade aber zutiefst einsam ist. Was wie der Preis des Ruhms wirkt, hat seine Ursache in ferner Vergangenheit.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Nora von Waldstätten ist die perfekte Besetzung für den traurigen Filmstar; die als kalte jugendliche Mörderin in einem Bodensee-"Tatort" ("Herz aus Eis", 2008) bekannt gewordene Wienerin wird ohnehin gern als kühle Sphinx besetzt. In "Oktober November" gelingt es ihr anscheinend mühelos, hinter der äußerlichen Unnahbarkeit unterschiedlichste Gemütsverfassungen anzudeuten; sie spiele auch privat ständig eine Rolle, wirft Sonjas Schwester Verena (Ursula Strauss) ihr irgendwann vor. Tatsächlich ist die gemeinsame Kindheit der beiden überhaupt erst der Grund, warum Sonja Schauspielerin geworden ist: weil sie permanent um Aufmerksamkeit und Zuneigung des Vaters (Peter Simonischek) kämpfen musste. Der wiederum findet erst nach einer Nahtod-Erfahrung den Mut und die Kraft, seiner Tochter eine Wahrheit zu gestehen, die ihr Leben verändert und endlich auch den Weg zu ihrer Schwester frei macht.
Handlung entsteht aus Figuren
Dem großen Simonischek gehört das Finale der Geschichte. Die Agonie des Patriarchen, dessen Körper um ein Leben kämpft, von dem sich sein Besitzer längst verabschiedet hat, ist gerade angesichts des Tabuthemas Sterben ebenso mutig wie eindrucksvoll. Spätestens jetzt kommt auch Spielmanns eigenwilliger Stil zum Tragen: Der hierzulande kaum bekannte Regisseur, mit "Revanche" (2008) und "Antares" (2004) immerhin zweimal Anwärter auf den "Oscar" für den besten fremdsprachigen Film, lässt nicht die Kamera (Martin Gschlacht), sondern die Schauspieler arbeiten. Auf diese Weise müssen sie die gesamte Last der Geschichte schultern, denn die Handlung resultiert nicht aus Ereignissen, sie entsteht allein aus den Figuren heraus: Sonja hat gerade einen Film abgedreht und reist nun in die spätherbstlichen österreichischen Berge, wo ihre Eltern Jahrzehnte lang einen Gasthof betrieben haben. Das Wirtshaus ist nur noch gelegentlich geöffnet, wenn sich eine Pilgerschar angemeldet hat; alle Beteiligten scheinen auf den Tod zu warten.
Und so resultiert der Reiz von "Oktober November" nicht zuletzt aus der Tatsache, dass die handelnden Personen fast ausnahmslos unglücklich sind. Der Vater ist seit dem Tod seiner Frau verbittert, und auch die von Ursula Strauss nicht minder tiefgründig verkörperte ältere Tochter, die sich um den Alten kümmert, führt kein richtiges Leben im falschen. Spielmann verdeutlicht dies mit Hilfe der vierten Hauptfigur: Die verheiratete Verena hat ein Verhältnis mit dem Landarzt der Gegend. Der von Sebastian Koch mit großer Gelassenheit gespielte Arzt hat als einziger jenes Ziel erreicht, nach dem sich die anderen sehen: Er ist mit sich im Reinen. Diese Haltung verströmt auch der Film, zumal Spielmann gelungen ist, wonach jeder Künstler strebt: Die scheinbare Beiläufigkeit der Bilder lässt allenfalls erahnen, wie viel Arbeit am Detail nötig war, um dieses Kunstwerk zu schaffen.