Dieser Film ist gleich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Seit die ARD-Tochter Degeto vor einigen Jahren eine neue Geschäftsführung und damit auch eine deutlich anspruchsvollere Philisophie bekommen hat, schien Christine Neubauer, früher auf Freitagsfilme im "Ersten" abonniert, zur Persona non grata geworden zu sein; von Heimatreihen wie "Die Landärztin" hat sich die neue Degeto-Führung ausdrücklich distanziert. "Maria, Argentinien und die Sache mit den Weißwürsten" ist also gewissermaßen Neubauers Comeback. Auch der Titel fällt aus dem Rahmen; angesichts jüngster Fehlgriffe wie "Mein Schwiegervater, der Stinkstiefel" oder "Mein Sohn, der Klugscheißer" hätte man in diesem Fall "Meine Tante, der Kotzbrocken" erwartet.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die größte Überraschung ist jedoch die Hauptdarstellerin. Neubauer ist eine gute Schauspielerin, aber aus irgendwelchen Gründen hat sie das seit zwanzig Jahren nur noch selten zeigen können (oder wollen). Überspitzt formuliert war dies zum letzten Mal in "Krambambuli" der Fall; für diese Rolle hat sie 1999 ihren zweiten Grimme-Preis bekommen (den ersten gab’s 1992 für "Löwengrube"). Als Titelheldin Maria zeigt sie sich zwar nicht von einer völlig neuen Seite, doch der Film ist insgesamt um Klassen besser als viele ihrer früheren Dramen. Neubauer ist Mitte fünfzig, es wäre also verfrüht, von einer Altersrolle zu sprechen, aber trotzdem markiert "Maria, Argentinien und die Sache mit den Weißwürsten" möglicherweise den Wechsel in ein neues Rollenfach. Vor zehn bis fünfzehn Jahren wäre wohl Christiane Hörbiger erste Wahl für die alleinstehende Maria gewesen, denn die Frau ist eine alte Jungfer, wie sie im Buche steht. Nichts kann man ihr recht machen, an allem hat sie was aussetzen; eine typisch bayerische Grantlerin eben. Für ihren Bruder Kristian (Max Schmidt) ist sie trotzdem unersetzlich, denn mit Maria steht und fällt eine Familientradition: Die Geissenwehrers sind berühmt für ihre Weißwürste. Maria hat das Rezept verfeinert. Nur sie kennt die Zutaten, die nötig sind, um den Würsten ihren unverwechselbaren Geschmack zu geben. Damit sie die Kunden nicht vergrault, ist Kristian für die Kontakte zur Außenwelt zuständig, und das schließt auch den Export mit ein: Er möchte den argentinischen Markt erobern; seine verstorbene Frau kam aus Buenos Aires. Weil er kurz vor der Abreise beim Wechseln einer Neonröhre von der Leiter stürzt, soll nun ausgerechnet Maria die Kontakte zu den möglichen Partnern in Südamerika knüpfen. Ihre Begeisterung hält sich erwartungsgemäß in Grenzen, zumal sie noch einen Klotz am Bein hat: Ihr fast erwachsener Neffe Caspar (Valentino Fortuzzi) möchte endlich die Heimat seiner Mutter kennenlernen. Seit ihrem Tod neigt er allerdings zu einer gewissen Schwermut.
Ein melancholischer Junge und eine missmutige Alte: Schon allein die Kombination ist originell. Natürlich sorgt auch der Kontrast zwischen argentinischer Lebensfreude und bayerischem Grantlertum für viel komisches Potenzial. Aus Sicht Marias sind die Einheimischen, für die Fleisch grundsätzlich auf den Grill gehört, kulinarische Barbaren, weshalb sie umgehend wieder heim will. Wegen eines Streiks bei der Fluggesellschaft muss sie aber noch ein paar Tage ausharren. Außerdem teilt Kristian ihr mit, dass der Betrieb pleite ist und das Elternhaus zwangsversteigert wird, wenn Maria keinen Deal mit den Südamerikanern einfädelt. Dank der Beharrlichkeit von Fahrer und Dolmetscher Diego (Carlos Lobo), den sie allerdings erst mal vor den Kopf stößt, kommt es doch noch zu einem erfolgreichen Geschäftsgespräch. Um sich nicht dauernd um Caspar kümmern zu müssen, bittet sie die Rezeptionistin Mariella (Tijan Marei), dem Jungen die Stadt zu zeigen. Prompt verliert Caspar sein Herz an das hübsche quirlige Mädchen, und sogar die zugeknöpfte Maria lässt sich von der einheimischen Lebenslust anstecken: Sie kauft sich ein buntes Kleid mit Ausschnitt und wagt es sogar, Diego zu küssen. Aber dann entdeckt sie, dass die Geschäftspartner ihr die Weißwurstidee geklaut haben, und schon ist die gute Stimmung wie weggeblasen. Gleiches gilt für Caspar, dem sie in ihrem Zorn gesteht, dass sie Mariella für ihre Dienste als "Kindermädchen" bezahlt hat.
Argentinier dürfen Spanisch sprechen
Natürlich wäre so eine Geschichte auch in den früheren "Süßstoff"-Jahren der Degeto möglich gewesen, und womöglich ist "Maria, Argentinien und die Sache mit den Weißwürsten" auch ein Kompromiss, weil das einstige Stammpublikum der Freitagsfilme lange mit der neuen Ausrichtung des Sendeplatzes gefremdelt hat. Aber die Tragikomödie ist kein Rückfall in frühere Gepflogenheiten, zumal die Verantwortlichen ohnehin für Qualität stehen: Regie führte Markus Herling, der zuletzt für Sat.1 das anspruchsvolle erotische Beziehungsdrama "Verführt - In den Armen eines Anderen" und für die Degeto zuvor "Seitensprung mit Freunden" gedreht hat. Das Drehbuch ist von Markus B. Altmeyer, dem Autor von "Letzte Ausfahrt Sauerland", einem tragikomischen Freundschaftsfilm über die letzte Reise eines Krebskranken. Produzentin des Films ist Ariane Krampe, die lange Jahre für die Firmen teamWorx und zuletzt Zeitsprung tätig war und dort unter anderem zeitgeschichtliche Stoffe wie "München 72", "Die Mauer - Berlin ’61" oder "Der Fall Barschel" produziert hat. Für das ZDF stellt sie seit vielen Jahren die in der Regel sehenswerte Reihe "Ein Sommer in…" her.
All’ das spielt aus Zuschauersicht naturgemäß nur eine untergeordnete Rolle, viel wichtiger ist Christine Neubauer, der es mühelos gelingt, alte und neue Degeto-Philosophie miteinander zu versöhnen. Es sind nicht zuletzt kleine handwerkliche Details, die dafür sorgen, dass Maria keine ihrer sonstigen Powerfrauen ist: Die Stimme ist ein bisschen kehlig, der Dialekt markant. Das sparsame Make-up sorgt dafür, dass die Frau betont unglamourös und älter wirkt, als sie ist. Und wo Neubauer früher gern zum Drama neigte, genügt ihr nun ein kurzes Zucken der rechten Augenbraue. Den Rest besorgen Marias Kleidung und die herzhaften Flüche, die allerdings niemand versteht, weil die Argentinier spanisch sprechen dürfen; auch das ist ein Unterschied zu früheren Freitagsfilmen. Ein weiterer ist die Musik: Birger Clausen signalisiert von Anfang an, dass das Thema Heimat zwar eine Rolle spielt, aber nicht im Sinn des klassischen Heimatfilms. Die an die ironischen Kompositionen von Hans-Jürgen Buchner (alias Haindling) erinnernden Bläser begleiten Maria nach Argentinien, rücken dort aber immer mehr in den Hintergrund, je mehr sich die Frau von ihren Wurzeln löst. Gegen Ende erzählt sie Diego, sie sei irgendwann in ihrem Leben falsch abgebogen; nun geht sie endlich ihren eigenen Weg.