Nur wenige Figuren haben in der Kriminalitätsgeschichte in so kurzer Zeit derart viel Schrecken verbreitet: Der vom Volksmund "Jack the Ripper" genannte Unbekannte hat im Herbst 1888 innerhalb von nicht mal drei Monaten fünf Prostituierte ermordet und grausam verstümmelt. Weil die Taten nie aufgeklärt werden konnten, ranken sich nicht nur viele (Verschwörung)-Theorien um die Mordserie; ihre Brutalität, aber auch ihre Mysteriosität führten zu einer Vielzahl von Büchern und Filmen. Sat.1 hat diese Liste nun verlängert.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Drehbuch stammt immerhin vom zweifachen Grimme-Preisträger Holger Karsten Schmidt ("Mörder auf Amrum", "Mord in Eberswalde"), der hierzulande zu den gewieftesten Autoren von TV-Krimis und -Thrillern gehört. Er hat die Geschichte des Serienmörders nicht komplett neu erfunden, aber um einige interessante Details und Figuren ergänzt. Die wichtigste ist die Hauptrolle: Sonja Gerhardt, spätestens durch den ZDF-Dreiteiler "Ku’damm 56" endgültig zum Star geworden, spielt die junge Anna Kosminski aus Hamburg, die ihrer Mutter und ihrem Bruder nach London folgt. Dort macht sie gleich drei niederschmetternde Erfahrungen: Ihre Mutter ist bereits zwei Monate zuvor gestorben, sie selbst wird betäubt und ausgeraubt, und ihr Bruder Jakob (Vladimir Burlakov) befindet sich in der Sicherheitsverwahrung eines Irrenhauses; die Polizei ist überzeugt, dass er Jack the Ripper ist, denn das letzte Opfer des Killers ist in seinem Bett gefunden worden. Jakob soll in wenigen Tagen einer Lobotomie unterzogen werden; die Operation am Gehirn würde ihn sanft wie ein Lamm werden lassen, ihn aber auch jeglicher Identität berauben. Wenn Anna ihren Bruder retten will, muss sie den wahren Mörder finden, und da sie kurz darauf einen Brief erhält, in dem Jack the Ripper ihre Ermordung ankündigt, geht sie ein waghalsiges Risiko ein: Sie wird den Köder für die Bestie spielen, damit der ihr gewogene Inspector Abberline (Falk Hentschel) den Killer zur Strecke bringen kann.
Regie führte Sebastian Niemann, der ungewöhnlich lange nicht mehr inszeniert hat; seine letzte Arbeit war die Agentenparodie "Mord ist mein Geschäft, Liebling" (2009), zuvor hat er neben dem Kinofilm "Hui Buh, das Schlossgespenst" (2006) für ProSieben unter anderem "Das Jesus Video" (2002) und den Horrorfilm "Biikenbrennen" (1999) gedreht. "Jack the Ripper" ist allerdings mit sichtbar höherem Aufwand entstanden. Das London des späten 19. Jahrhunderts ist sehr stimmig rekonstruiert worden, die aus dem Computer stammenden Hintergrundaufnahmen wurden perfekt mit dem Vordergrund kombiniert (gedreht wurde in Vilnius). Auch die Rekonstruktion des düsteren Armenviertels Whitechapel, wo der "Ripper" alle seine Morde begangen hat, wirkt mit all seinem Dreck sehr glaubwürdig. Der erfahrene Kameramann Gerhard Schirlo hat die gedeckten Farbtöne von Ausstattung und Kostüm auch in sein Licht übernommen. Die Bilder sind überwiegend erdfarben und betont unbunt, was dem Film automatisch eine spezielle Atmosphäre verleiht und von vornherein signalisiert, dass "Jack the Ripper" kein Wohlfühlfernsehen sein will. Diesen Effekt hat zwar auch die Auftaktszene mit der Ermordung des letzten Opfers und erst recht Annas Besuch im Irrenhaus, das das reinste Gruselkabinett ist, aber ansonsten ist der Thriller optisch vergleichsweise zurückhaltend und von Niemann auch vergleichsweise verhalten inszeniert; weitere Morde gibt es ohnehin erst zum Finale wieder.
Ein Phantom, das den Glauben an das Gute und das Böse festige
Allerdings erinnert die Musik von Egon Riedel stets daran, dass es sich dennoch unzweifelhaft um einen Horrorfilm handelt: Selbst erfahrene Fans des Genres werden nicht umhin können, immer wieder mal zusammenzuzucken, wenn der Komponist ein Ausrufezeichen setzt. Es ist ohnehin vor allem die Tonspur, die mit knarrenden Dielen und quietschenden Türen für Spannung sorgt, denn offenbar befindet sich Annas Refugium mitten in der Höhle des Löwen: Sie nimmt sich ein Zimmer im Haus eines Fotografen (Nicolas Farrell), der auch schon ihren Bruder aufgenommen hat. Samuel Harris verdient seinen Lebensunterhalt nicht zuletzt mit "Naturaufnahmen", und Anna findet raus, dass er auch sie ohne ihr Wissen als Modell missbraucht hat. Als der Ripper ihr mit Hilfe versteckter Gänge und geheimer Gucklöcher im Haus auflauert, fällt ihr Verdacht selbstredend umgehend auf Harris, der allerdings glaubhaft versichern kann, dass er mit der Mordserie nichts zu tun hat.
Eine reizvolle Rolle spielt auch Sabin Tambrea, der schon in "Ku’damm 56" Sonja Gerhardts Mit- und Gegenspieler war, als guter Geist aus der Nachbarschaft. Der Mann mit den Manieren eines Gentleman steht für eine faszinierende Ebene des Films: David Cohen ist ebenfalls Fotograf, aber auch ein Pionier der frühen Filmkunst und wie versessen darauf, Augenblicke festzuhalten. Annas Bruder war ebenfalls in dieser Hinsicht aktiv; tatsächlich findet sie auf einem Film den Beweis dafür, dass er unmöglich der Mörder sein kann. Und noch ein Aspekt ist interessant: Den Ordnungshütern kommen die Morde gar nicht ungelegen, denn sie haben zur Folge, dass die Polizei mit mehr Mitteln und mehr Personal ausgestattet wird. Der Ripper, sagt der Polizeichef, sei ein Phantom, das den Glauben an das Gute und das Böse festige; das kann man auch als Kommentar zu aktuellen Entwicklungen interpretieren. Davon abgesehen ist "Jack the Ripper" reines Unterhaltungsfernsehen, bei dem man hingebungsvoll seiner Angstlust frönen kann; und nebenbei eine Hommage an die Zeit, in der die Bilder laufen lernten.