Das Gespräch mit Jehoschua Ahrens verläuft so konzentriert und geradlinig wie selten ein Interview, er spricht unaufgeregt und nicht zu schnell. In anderthalb Stunden entsteht ein Überblick über den Stand des jüdisch-christlichen Dialoges – mit seiner persönlichen Einschätzung.
Jehoschua Ahrens ist 38 Jahre alt und orthodoxer Rabbiner. Nach dem Abitur war er zunächst einen ganz anderen Weg gegangen, hatte European Studies und Internationales Management studiert und dann als Marketingmanager gearbeitet. Als er Ende 20 war, ermutigte ihn ein Rabbiner zum Theologiestudium. Schon immer war Jehoschua Ahrens in der Gemeinde aktiv gewesen, jetzt machte er seine Leidenschaft zum Beruf, ging zum Studieren nach Israel. "Wieder lernen zu können, lernen zu dürfen, das war ein Privileg! Es macht mir immer noch Spaß", sagt er. Einzig seine Mutter hatte Sorge bei dem Gedanken, dass ihr Sohn seine Karriere aufgeben wollte. Doch Ahrens wusste: "In Deutschland und generell in Europa haben wir viel zu wenige Rabbiner." Deswegen sei das ein sicherer Job mit Zukunftsperspektive.
Für kurze Zeit war Jehoschua Ahrens Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, bis ein Angebot für ein Forschungsprojekt dazwischen kam. "Es war eine sehr schwierige Entscheidung", sagt Ahrens mit ernstem Gesicht. Die Wissenschaft lockte ihn, und aus der Oberrabbinerstelle in Düsseldorf könne man keinen halben Job machen. Also ging er und erforscht nun an der Universität Luzern alles rund um die Konferenz von Seelisberg von 1947. Damals arbeiteten jüdische und christliche Theologen die Ursachen für den christlichen Antisemitismus auf. Die Konferenz führte zur Gründung des Internationalen Rats der Christen und Juden (ICCJ) und war "die Wiege des jüdisch-christlichen Dialogs als Institution", erläutert Ahrens.
Sein Arbeitspensum ist schwindelerregend: Um in Archiven zu lesen, reist der Rabbiner nach Israel und in die USA, ab und zu natürlich auch nach Luzern. Außerdem hat er einen Online-Lehrauftrag, hält Vorträge von Bochum bis Bratislava, nimmt an Tagungen teil, wo immer sie stattfinden, und wirkt nun auch am evangelischen ZDF-Fernsehgottesdienst am 18. Dezember mit. Darüber hinaus sitzt Jehoschua Ahrens im Ausschuss Christen und Juden der Evangelischen Kirche im Rheinland, arbeitet für die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in der Schweiz und fungiert als Berater für die jüdisch-katholischen Beziehungen in der Slowakei. Als wäre all das nicht genug, hat Ahrens eine halbe Stelle als Rabbiner in Nürnberg, wo er zumindest am Schabbat und an den Feiertagen anwesend sein muss.
"Man bleibt immer jüdisch, selbst wenn man sich taufen lässt"
Die Fäden aller wissenschaftlichen, beruflichen und ehrenamtlichen Arbeit laufen in der Wohnung in Düsseldorf zusammen, die zugleich Büro und Familien-Lebensraum ist: Alle halbe Stunde klingelt eins der Telefone, währenddessen läuft Ahrens' Frau durch die Küche, um Süßigkeiten und Nüsse auf den Tisch zu stellen. Ein buntes Zirkuszelt mitten im Wohnzimmer zeugt von den beiden Kindern, zwei und fünf Jahre alt, die während des Interviews im Kindergarten sind. Jehoschua Ahrens ist die Ruhe selbst, sein bärtiges Gesicht unter der dunkelbraunen Kippa wirkt entspannt, und nach einem Telefonat ist er sofort wieder konzentriert bei der Sache.
Auf dem Tisch liegt – unter anderem – ein druckfrischer Text der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die Kundgebung "… der Treue hält ewiglich" hat die Synode der EKD Anfang November in Magdeburg verabschiedet, darin distanziert sie sich mit klaren Worten von "alle(n) Bemühungen, Juden zum Religionswechsel zu bewegen". Jehoschua Ahrens hat die Debatte mit hohem Interesse verfolgt und den Text analysiert. "Das ist eine ganz wichtige und sehr gute Erklärung", sagt er anerkennend. Nun sei noch einmal klar, dass es "aus christlicher Sicht trotz des Neuen Bundes keine Aufhebung des Alten Bundes gibt" und dass "das jüdische Volk eigenständig einen Zugang zu Gott hat und das nicht über Jesus gehen muss".
Die Synode hatte sehr um einzelne Formulierungen gerungen, vor allem um die Passage, in der es um Glaubenszeugnis oder Mission, Bekehrung oder Religionswechsel geht. Ahrens kann das nachvollziehen und versteht den christlichen Missionsauftrag, "aber die Menschen, die ja schon einen Bund mit Gott haben, denen braucht man ja keinen Bund mehr zu geben", so sieht er das. "Ich habe kein Problem, wenn ein Christ Zeugnis ablegt über seine Religion, auch hoffentlich sehr emotional und tiefgreifend, so lange er nicht die Absicht hat, jemanden zu überzeugen, diesen Glauben anzunehmen." Jeglicher Verdacht, Christen wollten Juden missionieren, sei mit der EKD-Erklärung "jetzt erstmal klar widerlegt", und das sei wichtig. Doch einen "Religionswechsel" gebe es für Juden eigentlich nicht. "Wenn man als Jude geboren oder übergetreten ist, ist man immer jüdisch, egal was man danach macht. Selbst wenn man sich taufen lässt."
Er kennt einen Jesuitenpriester, der als Jude geboren worden war. "Mit dem habe ich offen gesprochen. Er hat gesagt, er hat sich mit Jesus beschäftigt und Jesus hat ihn nicht mehr losgelassen. Was soll ich da sagen?" Jehoschua Ahrens zuckt mit den Schultern und schaut ein bisschen ratlos. "Für mich persönlich ist das natürlich schwierig, aber jeder muss da seine eigene Entscheidung treffen." Eine Grenze – auch für den jüdisch-christlichen Dialog – zieht er da, wo Christen Juden missionieren, "weil es dem Grundsatz widerspricht, dass man sich gegenseitig anerkennt und respektiert".
Der eigenen Religion nicht widersprechen
Am 18. Dezember wirkt der Rabbiner am evangelischen Fernsehgottesdienst mit. Die Vorgespräche seien von großem Respekt geprägt gewesen, versichert Jehoschua Ahrens – und zugleich musste er hier Grenzen ziehen. Denn ein orthodoxer Rabbiner kann in einer christlichen Kirche eben nicht alles machen. Zum Beispiel wird er kein liturgisches Gewandt tragen, "das würde meinem Verständnis widersprechen", sagt Ahrens. Wichtig ist auch, dass in der Kreuzkirche nur ein leeres Kreuz hängt. "Wir haben ja Bildnisverbot. Es gibt kein Bild von Gott, und Jesus ist natürlich Teil von Gott", erläutert er. "Das heißt, wenn ich irgendwo eine Jesus- oder Marienstatue habe, dann ist das für uns hochproblematisch." Solche Dinge müssen vorher klar sein, damit für den Rabbiner absolut keine Gefahr besteht, dass er "Götzen" anbeten könnte. Doch um der Inhalte willen ist der Rabbiner zu dem Auftritt bereit: Es geht um das Licht-Symbol und die Messiashoffnung in beiden Religionen. Jehoschua Ahrens wird – statt Predigt – ein Gespräch mit der Essener Theologin Christina Brudereck führen. Das ist für ihn möglich, weil er dieses Gespräch als Unterbrechung und nicht als Teil des Gottesdienstes versteht.
Der jüdisch-christliche Dialog sei professioneller geworden, meint der Rabbiner. Man spreche nicht mehr nur über den Holocaust, sondern es gehe mittlerweile mehr um theologische Fragen. "Der Knackpunkt ist: Wie kann man den anderen theologisch akzeptieren und respektieren, ohne dass man der eigenen Tradition oder Religion widerspricht? Das ist ein bisschen ein Drahtseilakt." Natürlich gebe es Kritik von Fundamentalisten, die keine Annäherung wollen, weil sie und eine Vermischung der Religionen befürchten. "Ich glaube aber, die eigene Religion wird im Dialog nicht relativiert. Sondern ganz im Gegenteil stärkt es die eigene Religion", meint Ahrens. Denn um die eigene Überzeugung in Worte zu fassen, muss man erst einmal nachdenken oder auch forschen. Unterschiede solle man klar benennen und auch darüber streiten, fordert der Rabbiner: "Dialog ist ja kein Kuschelkurs."
Jehoschua Ahrens ist ganz vorn mit dabei in der Dialog-Bewegung der orthodoxen Rabbiner. Gemeinsam mit 24 Kollegen hat er vor einem Jahr eine Erklärung mit dem Titel "Den Willen unseres Vaters im Himmel tun" veröffentlicht, um im jüdisch-christlichen Dialog einen Meilenstein zu setzen. Der zentrale Gedanke dieser Erklärung: "Juden und Christen müssen als Partner zusammenarbeiten, um den moralischen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen." Das Christentum sei "weder ein Zufall, noch ein Irrtum (...), sondern göttlich gewollt und ein Geschenk an die Völker", schreiben die Rabbiner. Beide Religionen hätten gemeinsame "Werte des Lebens, der Familie, mitfühlender Rechtschaffenheit, der Gerechtigkeit, unveräußerlicher Freiheit, universeller Liebe und des letztendlichen Weltfriedens" und müssten "gemeinsam eine aktive Rolle bei der Erlösung der Welt übernehmen".
"Diese Erklärung ist revolutionär und sie ist nicht revolutionär", sagt Jehoschua Ahrens. Revolutionär, weil niemand sie von orthodoxen Rabbinern erwartet hätte. Nicht revolutionär, weil die theologischen Inhalte nicht neu sind, das seien jüdische Positionen seit dem Mittelalter, erklärt der Rabbiner. Anlass für die Erklärung war im vergangenen Jahr das 50jährige Jubiläum der vatikanischen Erklärung "Nostra Aetate", mit der die katholische Kirche 1965 die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes anerkannte und die Judenmission ablehnte. Damit war eine Grundlage für Dialog und Begegnung zwischen Juden und Christen – auch evangelischen – geschaffen.
Der Dialog zwischen Juden und Christen hat Augenhöhe erreicht. Jehoschua Ahrens sieht das so: "Wir erkennen automatisch, dass wir Partner sein müssen, wenn wir beide gottgewollt sind. Gott kann sich doch nicht wünschen, dass wir uns bekämpfen!"