Tod am Lebensanfang

sternförmiger Grabstein am Kindergrabmal Hanau mit der Aufschrift "April 2015"
Foto: Lisa Menzel
Im Januar, April, Juli und Oktober jeden Jahres finden Gemeinschaftsbeisetzungen am Kindergrabmal im hessischen Hanau statt.
Tod am Lebensanfang
Sternenkinder in Hanau
"Wir sind die einzigen im Klinikbetrieb, die wirklich den Auftrag haben, sich Zeit zu nehmen. Alle anderen sind in ihren Dienstplänen sehr eingeschränkt", sagt Hans-Joachim Roth, evangelischer Klinikseelsorger im Klinikum Hanau. Gerade für Eltern, die nur wenige Augenblicke mit ihrem Kind erleben dürfen, ist das besonders wichtig.

Das Kindergrabmal auf dem Hanauer Hauptfriedhof ist zwar ausgeschildert, aber auch ohne Beschilderung nicht zu verfehlen: Mitten auf einer von sternförmigen Steinplatten übersäten Fläche steht ein Tor aus steinernen Bauklötzen – zu klein, um hindurchzugehen, und zu groß und zu auffällig, um übersehen zu werden. Es ist ein "Weg der Erinnerung" mit den Namen von vielen Kindern, der quer über die Anlage durch das "Tor zu einer anderen Welt" führt. Hier ruhen seit dem Jahr 2000 Erinnerungen an Kinder, die nie leben durften; an Kinder, für die der Lebensanfang nahezu gleichzeitig auch schon das Lebensende bedeutete - "Sternenkinder".

Die Begleitung der Eltern solcher fehl- oder totgeborenen Kinder nach der Geburt gehört zu den Aufgaben von Hans-Joachim Roth. Er ist seit 10 Jahren evangelischer Klinikseelsorger im Klinikum Hanau und achtet darauf, dass der Abschied vom Kind so gestaltet wird, wie es für die Eltern am angenehmsten ist: Im Krankenzimmer oder in der Kapelle, alleine oder im Kreise der Familie. "Gerade weil es so wenig Zeit überhaupt mit dem Kind ist, hat jeder einzelne Moment eine sehr große Bedeutung", sagt Roth.

"Da zu sein als einer, mit dem man reden kann, ist unser täglich Brot", sagen Hans-Joachim Roth (li) und Peter Schmalstieg (re).

Die Kinder werden in ein sogenanntes "Mosekörbchen" gelegt, bedeckt und zu den wartenden Eltern gebracht. Der Name "Mosekörbchen" drückt die Hoffnung aus, dass die toten Kinder wie Mose gerettet werden und von da an behütet und gut versorgt sind. Hierbei kommt auch die Kleidung der "Klinikaktion der Schmetterlingskinder" zum Einsatz, die von Ehrenamtlichen des Vereins FrauenWorte extra für die "Allerkleinsten" in Handarbeit hergestellt wird. Diese ist so konzipiert, dass ein Kleidungsstück mit dem Kind beerdigt werden soll und ein zugehöriges anderes Kleidungsstück bei den Eltern bleibt. Außerdem wird auf der Station ein Erinnerungsfoto sowie ein Hand- und Fußabdruck der Kinder gemacht.

Roth spricht mit den Eltern während dieses Abschiedes oft auch ein freies Gebet oder das Vaterunser. Auch das Jesuswort "Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Himmelreich." (Mt 19,14) kann den Eltern in einem solchen Moment Trost spenden. Manchmal zünde er sogar eine Kerze an, obwohl das vom Klinikum aus gar nicht erlaubt sei, verrät er.

"Ohne den Glauben könnte ich diese Arbeit nicht machen."

Wenn die Eltern keinen seelsorgerischen Beistand wünschen, übernimmt eine Krankenschwester die Gestaltung des Abschiedsrituals mit dem Mosekörbchen. Obwohl dieses Ritual nichts Frommes oder Spirituelles an sich habe, so habe es doch viel mit seinem persönlichen Glauben zu tun, sagt Roth. "Ohne den Glauben könnte ich diese Arbeit nicht machen. Allein dadurch, dass ich die tiefe Überzeugung habe, dass diese Kinder bei Gott natürlich auch eine Zukunft haben, bin ich überhaupt handlungsfähig."

Emotional nimmt die Begleitung von Eltern, die ihr Kind verloren haben, natürlich einen großen Teil der Arbeit der Klinikseelsorger ein, aber zeitlich ist der Anteil eher gering. Circa zehn bis zwölf Sternenkinder-Fälle betreuen die Klinikseelsorger im Jahr, schätzt Roths katholischer Kollege Peter Schmalstieg. Zu dieser Betreuung gehört die Begleitung der Betroffenen im Krankenhaus, die Gestaltung oder Mitwirkung an der Bestattung und auch die Trauerbegleitung der Eltern in Form von Gesprächen.

"Wir bieten den Eltern in der Vorbereitung der Beisetzung mehrere Särge zur Auswahl an," erklärt Roth. Gerade in einem Moment der großen Ohnmacht und des Ausgeliefert-Seins helfe diese Auswahl, denn dann könnten die Eltern wieder aktiv werden und Entscheidungen treffen. Alle Sargformen sind auch unbehandelt vorhanden, sodass die Eltern den Sarg farblich selbst gestalten oder bekleben können. Und Kollge Schmalstieg meint: "Wichtig für die Eltern ist auch, dass sie in dieser Situation nochmal etwas für ihr Kind tun können." Es ist auch möglich, ein Spielzeug oder Kuscheltier mit in den Sarg zu legen, um dem Kind noch etwas mit auf den Weg zu geben.

Die Särge für die "Allerkleinsten" werden in regelmäßigen Abständen von Schülerinnen und Schülern der Holzfachklasse der Ludwig-Geissler-Schule hergestellt. Parallel zur Gestaltung der Särge für die Einzel- und Gemeinschaftsbeisetzungen in den Werkstätten befassen sich die Schüler auch im Religionsunterricht mit den Themen Sterben und Tod. Dazu gehöre auch der Besuch des Kindergrabmals, erklärt Schmalstieg, der die Kooperation mit der Berufsschule besonders wichtig findet. Die Schüler würden dann merken, dass es oft junge Frauen und Männer wie sie selbst treffe, die auf diese Weise ihr Kind verlieren. Der Tod am Lebensanfang sei deshalb ein Tod "mitten im Leben", so Roth.

Gesegnet seien Trauer und Wut

Für Klinikpfarrer Roth ist der Verlust eines Kindes während der Geburt kaum mit dem Verlust anderer Angehöriger zu vergleichen: "Bei dem Tod eines alten Menschen nehmen wir Abschied von jemandem, wie er geworden ist, von der Wirklichkeit, die eingetreten ist. Aber hier müssen wir Abschied nehmen von Momenten, die hätten sein können, von Menschen, die nie geworden sind. Als Christ habe ich natürlich die Hoffnung, dass in Gottes neuer Welt ganz viel möglich ist und auch der Abschied von einem Sternenkind kein Abschied für immer ist, aber das ist eben weniger konkret."

Schmalstieg meint: "Mit Hiob habe ich das Recht, in einer solchen Situation auch sauer zu sein auf Gott. So ein Kind hätte das ganze Leben noch vor sich gehabt. Und kaum hat es angefangen, ist es auch schon wieder vorbei. Der Tod eines Kindes, das nie gespielt hat und nie mit Freunden durch die Gegend toben konnte, ist schwer zu ertragen."

Es sei auch Aufgabe der Klinikseelsorger, stellvertretend für die Eltern religiöse Gefühle wie etwa das Unverständnis gegenüber Gott oder das Ohnmachtsgefühl in einer solchen Situation auszudrücken, sagt Hans-Joachim Roth. Er erinnert sich an Fürbitten aus einer der letzten Gemeinschaftsbestattungen für Sternenkinder am Kindergrabmal: "Gesegnet sei deine Wut, dass du herausschreien kannst, was dir zu viel wird. Und gesegnet sei auch deine Trauer, dass du jetzt nichts überstürzt, sondern die Zeit findest, dich und deine Gefühle neu zu ordnen."

Seit es das Kindergrabmal in Hanau gibt, werden alle Tot- und Fehlgeburten aus den Hanauer Krankenhäusern dort bestattet. Für Schmalstieg ist es besonders wichtig, dass es inzwischen überhaupt die Möglichkeit der Bestattung von Kindern unter 500 Gramm Geburtsgewicht gibt. Auch die Kirchen hätten sich ja in der Abtreibungsdebatte das "Leben von Anfang an" auf die Fahnen geschrieben, das nicht erst ab der Geburt gelte. Und so bekämen jetzt auch die ganz kleinen Menschen in Hanau eine würdige Erdbestattung, obwohl für Kinder unter 500 Gramm in Deutschland eigentlich keine Bestattungspflicht besteht.

Eine gemeinschaftliche Beisetzung ist kostenfrei.

Dabei haben die Eltern verschiedene Möglichkeiten, wie sie ihr "Sternenkind" bestatten können. Entweder können sie ihr Kind direkt am Kindergrabmal im Gemeinschaftsgrab oder in einer individuellen Beisetzung bestatten. Oder sie können für ihr Kind ein eigenes Grab in der Nähe des Grabmals oder auf einem der Stadtteilfriedhöfe mit längeren Ruhezeiten und der Möglichkeit zur Verlängerung aussuchen. Eine gemeinschaftliche Beisetzung ist kostenfrei. Aber auch die Bestattung von Sternenkindern in einem Einzelgrab in der Nähe des Kindergrabmals kostet die Eltern einmalig nicht mehr als 500 Euro. "Für junge Familien, die Kummer haben, ist das schon schlimm genug", sagt Roth.

Klinikpfarrer Roth führt mit seinen Kollegen viermal im Jahr Gemeinschaftsbestattungen am Kindergrabmal durch. Manchmal nehmen dann auch Muslime an diesen Beisetzungen teil. "Wir verstehen unsere Arbeit natürlich nicht nur für evangelische und katholische unglückliche Eltern, sondern für alle. Das ist einfach ein Akt der Nächstenliebe, dass wir für alle da sind," sagt Roth und erklärt, wie er muslimische Rituale in die Bestattungszeremonie integrieren kann. Beispielsweise verschließen die muslimischen Männer zum Schluss das Grab, da würden dann auch die nicht-muslimischen Väter mithelfen. "Und die machen das mit einer Energie!", sagt Roth, "Dabei schaffen Männer sich ab! Und es geht wohl auch darum, etwas zu tun bei all dem Kummer."

Dieser Beitrag erschien erstmals am 15. November 2016 auf evangelisch.de.