"Das würde ich mich sonst nie trauen"

Thomas Lihl, Bewohner einer Betheler Einrichtung mit Erik Werner,Zirkuspädagoge
Foto: epd-bild/Reinhard Elbracht/Bethel
Üben für den großen Auftritt: Thomas Lihl (li.), Bewohner einer Betheler Einrichtung mit Erik Werner, freiberuflicher Zirkuspädagoge, Clown und Musiker, bei einem Workshop in Dortmund.
"Das würde ich mich sonst nie trauen"
Junge und ältere Menschen mit Behinderung werden zu begeisterten Akrobaten und Clowns. Sie trainieren für ein großes Ziel: einen Auftritt im "Circus Roncalli". Mit der außergewöhnlichen Vorstellung will Bethel sein 150. Jubiläum feiern.
28.01.2017
epd
Holger Spierig

Barfuß auf lange Nägel? Tut das nicht weh? Julius steht vor einem Nagelbrett und runzelt die Stirn. Zirkuspädagoge Erik Werner hält ihn am Arm, während Julius vorsichtig tastend auf das Brett mit den 15 Zentimeter langen Nägeln steigt. "Ihr dürft keine schnellen Bewegungen machen, also nicht drauf springen", erklärt Erik Werner. Auf dem Brett stehend strahlt Julius, der mit Trisomie 21 (Down-Syndrom) zur Welt kam. Sein Ziel: im nächsten Jahr in der Manege des "Circus Roncalli" zu stehen.

Die anderen Teilnehmer klatschen und jubeln dem 13-Jährigen zu. "Das würde ich mich sonst nie trauen", sagt Michael, der als nächster auf das Nagelbrett steigt. "Hier ist das aber etwas anderes." Von Montag bis Mittwoch hat sich die Sporthalle der Bethel-Schule Mamre Patmos ein Trainingslager für kleine und große Artisten verwandelt. Ein Roncalli-Team arbeitet in einem Workshop mit rund 20 Menschen mit Behinderungen aus den Einrichtungen Bethels.

Zuvor gab es weitere Workshops an den Bethel-Standorten in Hannover, Berlin und Dortmund. Im Frühjahr 2017 ist es dann so weit: Dann werden die insgesamt 80 Teilnehmer aller vier Workshops gemeinsam mit Profi-Artisten die Stars bei einer großen Show des "Circus Roncalli" mit rund 1.500 Zuschauern sein. Die Aufführung ist Teil des Jubiläumsprogramms, mit dem die von Bodelschwinghschen Stiftungen im nächsten Jahr 150 Jahre Bethel feiern. Der Spielort wird in den nächsten Wochen festgelegt, wenn der Roncalli-Tourplan feststeht.

Erik Werner, Freiberuflicher Zirkuspädagoge,übt mit Julius Thole aus der Betheler Mamre-Patmos-Schule, über ein Nagelbrett zu gehen.

"Uns ist wichtig, dass das Jubiläum besondere Erlebnisse schafft", erläutert Johann Vollmer, der bei Bethel mit der Organisation der Feierlichkeiten befasst ist. In dem Zirkusprojekt werden behinderte Menschen aus Bethel-Einrichtungen unter Hilfestellung des Roncalli-Teams einen Tag den Zirkus übernehmen. Damit wird die Vision Bethels praktisch erlebbar: dass behinderte Menschen gleichberechtigt Anteil an der Gemeinschaft und dem öffentlichen Leben haben. Auch der Roncalli-Zirkus sei von der Idee einer gemeinsamen Vorstellung von Anfang an begeistert gewesen, erzählt Vollmer.

Die 16-jährige Thu-Huyen, die im Rollstuhl sitzt, jongliert mit jeder Hand an einer Stange einen Teller. Sie strahlt. "Du bist Spitze!", wird sie von der Leiterin des Workshops, Jarry Seedorf-Harth, gelobt. "Heute morgen konntest du nicht mal einen Teller jonglieren, jetzt sind es schon zwei."

Bewusstsein als Gruppe stärken

Für Seedorf-Harth, die schon mit vielen Gruppen gearbeitet hat, ist das Bethel-Projekt etwas Besonderes. "Alle sind mit Feuer dabei", ist die Zirkuspädagogin begeistert. "Die Teilnehmer hier sind so herzlich, ehrlich, direkt und offen." Thu-Huyen habe ihr gestern ohne Worte klar gemacht, dass sie auf ihren Schoß wolle, erzählt sie. "Das war ein schöner Moment, wo die Zeit stillstand."

Die Workshop-Teilnehmer üben drei Tage lang von morgens bis nachmittags. "Eine so große Aufmerksamkeit gibt es im normalen Schulunterricht nicht", erzählt schmunzelnd Wolfgang Spode, der als Lehrer der Mamre-Patmos-Schule auch für Theater- und Zirkusprojekte zuständig ist. "Hier gibt es keine Noten. Jeder macht nur das, was er kann", erklärt der Pädagoge die Begeisterung. Die gemeinsame Arbeit stärke auch das Bewusstsein als Gruppe: Bei einer menschlichen Pyramide zum Beispiel erlebten die Kinder und Jugendlichen, dass keiner einfach weggehen könne, ohne dass alles zusammenbreche.

Manch einer der Teilnehmer hat schon vor der großen Aufführung seinen persönlichen Erfolg: Thomas Lihl, Bewohner einer Betheler Einrichtung in Dortmund, hat beim dortigen Workshop mit großer Begeisterung ausprobiert, ein Clown zu sein. Seitdem ist der mehrfach behinderte Mann wie verwandelt. Das hätten Betreuer ihm hinterher freudig berichtet, erzählt Zirkustrainer Erik Werner. Vieles, bei dem er vorher Hilfe in Anspruch genommen habe, wolle Lihl jetzt alleine machen. Nach der Zirkusarbeit meistere er mit viel mehr Selbstvertrauen seinen Alltag.