Frau Präses, die EKD-Synode hat als Schwerpunktthema Europa. Das Kirchenparlament befasst sich mit dem Thema in einer Zeit, in der es dem Kontinent nicht gutgeht: Griechenland-Probleme, Flüchtlingskrise, Brexit. Wie will sich die EKD positionieren?
Irmgard Schwaetzer: Der Vorbereitungsausschuss hat sich intensiv Gedanken über die Situation in Europa gemacht. Der Entwurf für die Kundgebung, die wir verabschieden wollen, knüpft an die Geschichte vom Barmherzigen Samariter an. Er gibt ein Beispiel für das biblische Doppelgebot: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst." Diese Haltung brauchen wir in Europa ganz dringend, und die Kirchen sind in der Pflicht, dies zu befördern. Das tun sie schon jetzt an ganz vielen Stellen. Es bleibt aber unsere gemeinsame Aufgabe, Barmherzigkeit in die Gesellschaft einzutragen.
Angesichts der unterschiedlichen Flüchtlingspolitik in den europäischen Staaten nehmen auch die Protestanten in Europa unterschiedliche Positionen ein. Welches Signal wollen Sie den Schwesterkirchen geben?
Schwaetzer: Wenn wir eine Abstimmung auf der politischen Ebene erwarten, brauchen wir auch eine Verständigung der Kirchen untereinander, damit wir beginnen, mit einer Zunge zu sprechen.
Braucht es in den europäischen Kirchen eine "Koalition der Willigen" der EKD gemeinsam mit den Skandinaviern und Niederländern?
Schwaetzer: Eine solche Verständigung ist sinnvoll, um andere zu überzeugen - es darf aber nicht dazu führen, dass einzelne isoliert werden.
"Das Auseinanderdriften der Gesellschaft hat viel damit zu tun, dass sich Menschen an den Rand gedrängt fühlen"
Was wollen Sie den Kirchen beispielsweise in Ungarn und der Slowakei sagen, die die restriktive Flüchtlingspolitik ihrer Regierungen zumindest dulden?
Schwaetzer: Ich bin ganz sicher, dass wir zunächst zuhören müssen, welche Erfahrungen sie gemacht und welche Positionen sie abgeleitet haben, bevor wir mit irgendwelchen Forderungen kommen. Das gegenseitige Kennenlernen ist noch viel intensiver notwendig.
Geht der Kundgebungsentwurf der Synode über die Flüchtlingspolitik hinaus?
Schwaetzer: Der Leitgedanke ist die politische Mitgestaltung durch die Kirchen. Es geht dabei vor allem um Fragen von Inklusion. Das Auseinanderdriften der Gesellschaft hat viel damit zu tun, dass sich Menschen an den Rand gedrängt fühlen. Das müssen wir auffangen - und damit Tendenzen entgegensteuern, dass Menschen sich radikalisieren.
Welche Sorgen machen Ihnen die wachsenden rechtspopulistischen Strömungen?
Schwaetzer: Überall dort, wo Menschen sich fremdenfeindlich oder menschenverachtend äußern, werden wir klar widersprechen. Das gilt ebenso bezüglich etwaiger Angriffe auf die demokratische Grundordnung. Die Demokratie ist eine wichtige Grundlage für unser Zusammenleben. Die Rechtsstaatlichkeit in Europa ist auch eine Garantie dafür, dass wir unseren Verkündungsauftrag erfüllen können in einer pluralen und stärker säkularen Gesellschaft.
Anhänger rechtspopulistischer Strömungen sind auch innerhalb von Kirchen vertreten - wird das deren Arbeit verändern?
Schwaetzer: Wir müssen uns damit keinesfalls abfinden. Wir müssen aber auch in den eigenen Reihen sehr genau hingucken, wo rechtspopulistische Tendenzen formuliert werden. Und wir müssen verhindern, dass solche Tendenzen sich weiter ausbreiten. Der Rat der EKD hat vor drei Jahren den Auftrag der Synode erhalten, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Dazu ist im vergangenen Jahr ein Bericht vorgelegt worden, und die Synode hat uns zu einer qualitativen Untersuchung beauftragt. Es soll herausgefunden werden, wo von Vorurteilen geprägten Tendenzen des Abgrenzens und Ausschließens existieren und wo nicht. Was macht Gemeinden anfällig, was macht andere Gemeinden widerstandsfähig?
"Wir als Kirche müssen noch genauer hinsehen"
Welche Ergebnisse liegen vor?
Schwaetzer: Eines zeichnet sich sehr klar und deutlich ab: Kirchliche Gruppen, die mit Tabus arbeiten und in denen es Räume des Nichtsagbaren gibt, sind sehr viel anfälliger für rechtspopulistische Tendenzen, für Homophobie, Islamophobie und Antisemitismus, als Gemeinden, in denen Transparenz herrscht und wo alles offen gesagt werden kann.
Sehen Sie Unterschiede zwischen den landeskirchlichen Gemeinden und den evangelikalen Gruppierungen?
Schwaetzer: Manche Äußerungen aus Teilen des evangelikalen Bereichs legen nahe, dass dort eine größere Offenheit etwa gegenüber dem Gedankengut der AfD besteht. Wir können aber keine Aussagen treffen, inwieweit das auch landeskirchliche Gemeinden betrifft.
In der Politik wird diskutiert, ob die Abstiegsängste der Mittelschicht in der Vergangenheit nicht hinreichend berücksichtigt und aufgefangen wurden. Muss sich auch die Kirche diesen Schuh anziehen?
Schwaetzer: Wir müssen uns selbst fragen, ob unsere eigenen Beschlüsse zur Inklusion ernst genug genommen und gelebt werden. Es ist einfacher, in Gruppen miteinander zu arbeiten, die aus der gleichen Haltung heraus kommen und in ähnlichen sozialen Verhältnissen leben, anstatt auch auf andere zuzugehen und deren Probleme wahrzunehmen. An dieser Stelle müssen wir als Kirche noch genauer hinsehen.
"Es ist nicht unsere Aufgabe, Juden zum Heil zu führen"
Auch das umstrittene Thema der christlichen Mission an Juden wird auf der Synode eine Rolle spielen. Angekündigt war eine theologische Klärung und Positionierung der EKD. Die Synode hat dazu einen Studientag veranstaltet - was wird dem Kirchenparlament in Magdeburg präsentiert?
Schwaetzer: Den Synodalen liegt ein Antrag des Präsidiums zu diesem Thema vor, mit dem sich auch die Runde der Leitenden Geistlichen und der Rat der EKD beschäftigt haben.
Was soll beschlossen werden?
Schwaetzer: In dem Antrag steht eine sehr klare Absage an alle die Formen des Glaubenszeugnisses, die gezielt auf die Bekehrung von Juden und deren Konversion gerichtet sind. Kernpunkt ist die Einsicht, dass Gott seinen Bund mit Israel nicht aufgekündigt hat und seine Heilsverheißung für das Volk Israel ihre Gültigkeit behält. Als Christen ist es nicht unsere Aufgabe, Juden zum Heil zu führen, das tut Gott selbst. Das ist für mich der Kern dessen, was Paulus im elften Kapitel seines Römerbriefs entfaltet.
"Für die Ablehnung von Bekehrungsversuchen gegenüber Juden sind allein theologische Gründe maßgeblich"
In Deutschland kann das Verhältnis von Christen und Juden nicht ohne Rückblick auf die Geschichte betrachtet werden. Relativiert die Schoah den Missionsbefehl Jesu?
Schwaetzer: Nein. Die Schoah wird in dem Antrag des Präsidiums an die Synode angesprochen. Sie hat zu einem grundlegenden Umdenken in der Kirche geführt vor allem in der Erkenntnis des schuldhaften Verhaltens der Kirche gegenüber den Juden. Sie hat aber auch die Augen geöffnet für theologische Irrwege im Verhältnis zum Judentum. Für die Ablehnung von Bekehrungsversuchen gegenüber Juden sind daher allein theologische Gründe maßgeblich.
Rechnen Sie mit kontroversen Debatten?
Schwaetzer: Das erwarte ich schon. Wichtig ist die Frage, wie wir miteinander die Begriffe Zeugnis und Mission definieren. Bei dem, was landläufig unter "Judenmission" verstanden wird, geht es ja auch um ein sehr verkürztes Verständnis von Mission. Das ist im Blick auf das Judentum besonders fatal, weil es im Prinzip immer auf eine Verneinung jüdischer Identität und jüdischen Glaubens hinausläuft: Als ob wir als Christen den Juden etwas bringen müssten, was ihnen in ihrem Glauben fehlt. In Wahrheit ist es doch umgekehrt, das ist doch die Pointe bei Paulus: Nicht der Baum trägt die Wurzel, sondern die Wurzel den Baum.
Sehen Sie in dem zu erwartenden Synodenbeschluss eine abschließende Klärung des über Jahre strittigen Themas der Judenmission?
Schwaetzer: Wenn die Synode der Vorlage zustimmt - in welcher Form auch immer -, ist das eine abschließende Erklärung. Es sei denn, die Synode erteilt weitere Arbeitsaufträge.