Frau Gause, die evangelische Kirche feiert 500 Jahre Reformation. Warum feiern Sie mit?
Gundula Gause: Die Reformation ist für mich ein Wendepunkt in der Geschichte, das Ende des düsteren Mittelalters, der Auftakt zur Neuzeit. Martin Luther hat einen Weg eingeschlagen, der bis in die heutige Zeit führt und der die Geschichte ganz entscheidend von Wittenberg aus beeinflusst hat. Von daher ist die Reformation für mich – auch wenn es abgegriffen klingen mag – ein "Meilenstein in der Geschichte". Von Hause aus bin ich evangelisch, aber katholisch verheiratet und somit seit Jahren in und für beide Kirchen aktiv. Somit bin ich wie viele andere praktizierende Christen eine Grenzgängerin der Ökumene – und sehe, dass da doch einiger Handlungsbedarf besteht.
In welche Richtung?
Gause: Ich denke, wir müssen von beiden Seiten schneller und kompromissbereiter aufeinander zugehen. Letztlich sollten die christlichen Kirchen doch an einem Strang ziehen. Der gemeinsame Glaube an den dreieinigen Gott ruft uns auf, trotz theologischer Differenzen pragmatische Lösungen zu suchen, die den Zielen unserer Kirchen dienen und ermöglicht, dass ihre wertvollen Ideen und Ideale stärker zur Geltung kommen. Es hilft nichts, über Mitgliederschwund und Kirchenferne zu lamentieren, wenn sich oftmals der Eindruck aufdrängt, dass sich die einzelnen Gemeinschaften in ihren separaten Organisationsformen ganz wohl fühlen und es in der Ökumene bei Appellen und Sonntagsreden belassen. Als praktizierende Christin an der Basis hoffe ich sehr, dass sich heute durchaus auch im ursprünglichen Geist Martin Luthers ein gemeinsamer Weg finden lässt.
Manch einer sagt, dass Papst Franziskus das in Gang setzen könnte.
Gause: Wer, wenn nicht ein Papst wie er könnte das Projekt der Ökumene weiter vorantreiben?! Zumal auch die katholische Kirche den Ideen der Reformation viel zu verdanken hat. Martin Luther hat seinerzeit einen Anstoß gegeben zur Selbstreinigung, zu einer Erneuerung, die dringend notwendig war. Die eklatanten Missstände der vorreformatorischen Zeit – die Verweltlichung und Prunksucht der Kirchenoberen, der Ablasshandel, die Inquisition und die allgemeine Vernachlässigung christlicher Werte – wären ohne Reformation der katholischen Kirche zum Verhängnis geworden. Es war ganz wichtig, dass die katholische Kirche durch die Ideen Luthers zu kritischer Selbstreflexion und zu Reformen gezwungen wurde und so zu neuer Stärke fand.
Wer ist Martin Luther für Sie?
Gause: Martin Luther ist für mich ein mutiger Zweifler, ein wortgewaltiger Intellektueller und auch ein Revolutionär, der sich dem ihm vorgeschriebenen Lebensweg entzogen hat. Die Eltern wollten, dass er Jurist wird und auf des Vaters Wunsch hin hatte er auch Jura studiert. Nach dem immer wieder kolportierten Blitz-Erlebnis in einem Gewitter entschied er, Mönch zu werden und Theologie zu studieren. Das empfinde ich als sehr mutig. Er war für mich ein sehr freier Mensch. Das ist ja auch sein Thema: die Freiheit des Christenmenschen. Für sie hat er in einer Zeit geworben, die sehr von Zwängen, Macht und Angstmacherei gekennzeichnet war. Er hat die Menschen dazu aufgerufen, ihrem eigenen Gewissen zu folgen und sich zu befreien – von Bedrohungen durch Vertreter der Kirche, durch Priester, die den bedrängten Menschen ihre Sünden gegen Ablass abkauften wollten. Aber die Gnade Gottes lässt sich nicht erkaufen, sondern ist einfach da – durch die Liebe Gottes, durch die Gegenwart Gottes.
Wie erleben Sie Gnade im Alltag?
Gause: In allererster Linie als die Gnade, gläubige Christin sein zu dürfen und christliche Inhalte wie etwa das Gebot der Nächstenliebe an die eigenen Kinder weiterzugeben. Eine solche Haltung erleichtert auch die Suche nach dem ganz persönlichen Glück im gemeinsamen Erleben mit anderen Menschen, im persönlichen Engagement, im Erfolg, in kleinen oder großen Dingen. Glücksempfinden ist ja sehr individuell und persönlich. Für mich ist neben dem Zusammensein mit der Familie das berufliche und ehrenamtliche Engagement eine Quelle des Glücks.
Nehmen wir an, Luther kommt zu Ihnen in die Sendung. Was würden Sie ihn fragen?
Gause: Als Fernsehjournalistin würde ich ihn gewiss fragen, welche Rezepte er für die Ökumene empfiehlt. Was soll denn heute noch geschehen, um den christlichen Kirchen die Notwendigkeit von Kooperation und Gemeinsamkeit zu verdeutlichen? Sind die aktuellen Bedrohungen durch Verweltlichung, Materialismus, Oberflächlichkeit auf der einen Seite und auch religiös motivierten Terrorismus auf der anderen Seite nicht Grund genug, endlich aufeinander zuzugehen?
Was würde dieser Luther antworten?
Gause: Das weiß ich natürlich nicht. Aber vielleicht würde er sagen: "Das ist ein weiter Weg." Eines seiner großen Themen war die Freiheit eines Systems, das drohte, in den eigenen Machtstrukturen unterzugehen. Statisches Beharren auf Strukturen beobachten wir auch heute vielerorts. Es drängt sich oft der Eindruck auf, dass organisatorische und individuelle Egoismen dem größeren christlichen Ganzen im Wege stehen.
Ist Luther auch eine Inspiration für Ihre journalistische Arbeit?
Gause: Er kann inspirieren – als Deutscher von internationaler Größe, als beeindruckender Intellektueller, der die Dinge hinterfragt und der den Leuten "aufs Maul schaut". Er kann Journalisten von heute inspirieren zu schauen, was wirklich gesagt wurde, was sich hinter Worthülsen versteckt. Reformation bedeutet für mich aber auch, sich die Fähigkeit zur Selbstkritik zu bewahren. In unserer Nachrichtenredaktion hinterfragen wir ständig, wie wir an die Themen herangehen sollen. Wir bemühen uns um höchste Sachlichkeit und Objektivität. Das sind unsere Aufgabe und unser Selbstverständnis. Wenn wir dennoch manchmal dem Vorwurf der "Lügenpresse" ausgesetzt sind, hängt das leider oft mit der selektiven Wahrnehmung von Kritikern zusammen, die glauben, nur ihre eigene Sicht auf die Nachrichtenlage sei objektiv. Die Bereitschaft zu pluralistischer Auseinandersetzung und der Respekt vor der Meinung des Anderen fehlen dabei gänzlich und werden durch Rechthaberei und Verschwörungstheorien ersetzt.
Welche Rolle spielt Ihr Glaube für Ihre Arbeit?
Gause: Journalisten haben allesamt ihr Berufsethos: Objektiv und relevant soll die Berichterstattung sein, die Würde des Menschen achtend, niemals verletzend, niemals unwahr. Das sind Kriterien, die auch auf christlichen Grundsätzen beruhen. Meinen Glauben möchte ich nicht vor mir hertragen, er gehört einfach zu mir, ist Teil meiner Identität, eine selbstverständliche Koordinate meines Lebens. Ich meine, das Christsein trägt sich ins Leben hinein, ist eine Grundhaltung. Der Glaube beeinflusst mein Denken, meine Haltung zu verschiedenen Themen und auch meine ehrenamtlichen Aktivitäten. Warum engagiere ich mich als Botschafterin für das Reformationsjubiläum oder als Schirmherrin des Afrikatages für das Hilfswerk missio? Warum engagiere ich mich für die Stiftung Lesen? Auch weil sich darin mein Glaube ausdrückt. Reformation bedeutet für mich den immerwährenden Aufruf zu Engagement und konkretem Handeln.
Hat das Reformationsjubiläum das Zeug, es als Nachricht in die "heute-journal"-Sendung zu schaffen?
Gause: Ganz gewiss! Wie die Berichterstattung dann genau ausschauen wird, das werden wir in der Redaktion diskutieren. Das Reformationsjubiläum ist für mich auf jeden Fall eine Nachricht, denn es gehört zu unserer Lebensrealität. Es ist Teil unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens, beeinflusst unsere Kultur, in dem es einen historischen Meilenstein markiert, der für uns alle von Bedeutung ist. Wir leben in Europa, einem Kontinent, für den die christliche Religion identitätsstiftend war und ist. Obwohl viele Menschen Religion nicht mehr leben, ist das Christentum wichtiger und zentraler Teil unserer Identität und Geschichte. Und wir haben angesichts der weltweiten Entwicklung allen Grund zur Selbstbehauptung. Der christliche Glaube ist für mich von großer Friedfertigkeit und Toleranz, Nächstenliebe und Barmherzigkeit geprägt. Diese Fahne sollten wir hochhalten.