Erst kürzlich hat sich die Episode "Wo bist Du, Feigling" aus der ZDF-Reihe "München Mord" mit einem derartigen Mord aus heiterem Himmel befasst; das Drehbuch basierte auf einem realen Vorfall. Erol Yesilkaya erzählt von einem ganz ähnlichen Ereignis: Ein Mann reicht einem anderen, der auf dem Boden liegt, die Hand, um ihm beim Aufstehen zu helfen, und wird mit fünf Messerstichen niedergestochen. Die Polizei hat keinerlei Anhaltspunkte, die Zeugenaussagen sind auch keine Hilfe, also wird ein Massen-Gentest mit allen Männern organisiert, deren mobiles Telefon zur Tatzeit im Umkreis des Tatorts registriert worden ist. Der Aufwand ist enorm, das Ergebnis ernüchternd; nach einem halben Jahr gilt der Fall als nicht mehr lösbar.
Die nüchterne Rahmenhandlung lässt nicht mal erahnen, wie komplex dieser Film ist. Yesilkaya und Regisseur Sebastian Marka, gemeinsam unter anderem für den letzten HR-"Tatort" mit Joachim Król verantwortlich ("Das Haus am Ende der Straße"), machen aus der scheinbar einfachen Geschichte einen exzellenten Krimi. Die beiden Kommissare Leitmayr und Batic (Udo Wachtveitl, Miroslav Nemec) ermitteln bereits seit 25 Jahren; aber Nuancen genügen, um die Belastbarkeit dieser Dienstehe auf die Probe zu stellen. Mit kleinen wirkungsvollen Einfällen verdeutlichen Yesilkaya und Marka die frustrierende Gleichförmigkeit des Ermittlerdaseins, wenn sämtliche Bemühungen ins Leere laufen: Allmorgendlich sitzt Batic, als sein Wecker piept, bereits angezogen auf dem Bett. Monat für Monat reißt Leitmayr ein Blatt von einem Kalender, dessen Sinnsprüche selbstredend direkten Bezug zur Handlung haben: "Der erste Eindruck ist wichtig, aber der zweite enthüllt die Wahrheit"; oder auch "Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht." Die Stimmung zwischen den Polizisten wird zunehmend frostiger, zumal Leitmayr vom Dezernatsleiter (Jürgen Tonkel) zum alleinigen Leiter der Sonderkommission ernannt worden ist; Batic wirkt urlaubsreif.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Yesilkaya versorgt die beiden in Würde ergrauten Hauptdarsteller mit viel Spielmaterial, und das nicht nur wegen Batics Burnout-Symptomen. Der Kommissar knüpft auch eine Beziehung zur japanischen Frau (Luka Omoto) des Opfers und ihrem kleinen Sohn, und tatsächlich ist es ausgerechnet die Witwe, die schließlich dafür sorgt, dass neuer Schwung in die Sache kommt, als sie den Mörder gegenüber einem Journalisten als Feigling bezeichnet. Die Qualität des Drehbuchs zeigt sich jedoch in den Details, die für den Fortgang der Handlung oft gar nicht wichtig sind: Als Batic gleich zu Beginn auf unwegsamem Gelände einen verdächtigen Stadtstreicher (Axel Neumann) verfolgt, verliert er einen Schuh. Als er im Krankenhaus nach angeblich erfolgreicher Operation das Opfer besuchen will, bittet ihn der Arzt zum Gespräch und schließt die Tür; die Kamera bleibt draußen. Sehr schön ist auch die Schnittfolge mit den Zeugenaussagen, die sich auf zum Teil groteske Weise widersprechen. Ohnehin ergeben sich immer wieder Momente unverhoffter Komik, wenn zum Beispiel der frustrierte Batic gegen einen Papierhandtuchspender schlägt, dessen Klappe sich fortan nicht mehr schließen lässt. Später kündigen die beiden Kommissare einander die Freundschaft, was nach dem Schnitt in eine Karaoke-Bar längst wieder vergessen ist. Trotzdem bleibt der Film stets fesselnd, und das schließlich sogar ganz klassisch, als die Japanerin nach ihrer "Feigling"-Aussage um ihr Leben fürchten muss.
Zu einem herausragenden "Tatort" wird "Die Wahrheit" spätestens durch Markas Inszenierung. Schon allein die Farbgebung ist interessant, weil Willy Dettmeyers Bildgestaltung die Revierräume in immer wieder anderen farblichen Schattierungen zeigt, wobei "Schattierung" tatsächlich Zwielicht heißt. Aufnahmen aus der vertikalen Vogelperspektive verdeutlichen die Aussichtslosigkeit der polizeilichen Bemühungen. Abgerundet wird die ausgezeichnete Gesamtleistung aller Beteiligten durch die Musik von Thomas Mehlhorn, die mit einer Mischung aus Elektronik und melancholischen Klavierpassagen ihren Teil dazu beiträgt, dass dieser Krimi zu den besten aus München gehört.