Dieser Punkt prägt auch Nikolaus Leytners Drama "Die Stille danach", doch der übergeordnete Aspekt ist das Warum: Warum hat ein gänzlich unauffälliger 14-Jähriger irgendwo in der österreichischen Provinz in seiner Schule sechs Menschen erschossen, vier weitere schwerverletzt und anschließend seinem eigenen Leben ein Ende gesetzt?
Leytner hat einige bemerkenswerte Filme mit Christiane Hörbiger gedreht ("Der Besuch der alten Dame", "Die lange Welle hinterm Kiel") und für sein Krimidrama "Ein halbes Leben" den Grimme-Preis wie auch den Deutschen Fernsehpreis bekommen. Kennzeichnend für seine Arbeit sind nicht zuletzt die herausragenden darstellerischen Leistungen. Zentrale Figur von "Die Stille danach" ist die von Ursula Strauss gespielte Mutter des Jungen, Paula. Die facettenreiche Rolle ist ungemein schwierig, weil die Schauspielerin eine Vielzahl von Gefühlen verkörpern muss, die sich zum Teil widersprechen. Zu Beginn, als Paula noch keine Einzelheiten kennt, sondern nur erfährt, dass an der Schule etwas passiert ist, hat sie Angst um ihr Kind. Auf die Mitteilung, Felix sei nicht nur tot, sondern auch der Täter, reagiert sie mit Unglauben. Auch später bleibt sie dabei, den Jungen in erster Linie als Sohn und nicht als Mörder zu sehen. Als ihr Mann Michael (Peter Schneider) vorschlägt, sich mit einem offenen Brief bei Opfern und Angehörigen zu entschuldigen, reagiert sie mit verzweifeltem Sarkasmus, weil sie überzeugt ist, dass sie sich als Mutter nichts vorzuwerfen hat.
Amoklauf hat Folgen für die Eltern...
Eher beiläufig erzählt Leytner, welche Folgen der Amoklauf für die Eltern hat: das Getuschel im Supermarkt, die Hassbriefe, ein Farbbeutel auf dem Auto, "Mörderbrut" an die Scheibe von Michaels Fitnesscenter geschmiert, die Belagerung des Hauses durch Medienvertreter, die TV-Berichte und die reißerischen Schlagzeilen. Seiner Hauptfigur dagegen nähert sich der Film so weit wie überhaupt möglich, und das durchaus buchstäblich, weil Leytners bevorzugter Kameramann Hermann Dunzendorfer stets ganz nah an Strauss ist. Aber große Nähe führt nicht automatisch zu Empathie. Szenen wie jene, in denen die Schauspielerin im seelischen Schmerz das Gesicht verzerrt oder ihre Trauer herausschreit, können leicht ins Gegenteil umschlagen. Solche Momente wecken nicht unbedingt das Mitgefühl, sondern überlagern es womöglich, weil sie durch die Nähe der Kamera laut und plakativ wirken; derart viel Intimität hat womöglich zur Folge, dass man eher peinlich berührt als mit Anteilnahme reagiert. Der nach innen spielende Peter Schneider ist dagegen fast wohltuend.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Emotionalität wirkt auch deshalb so plakativ, weil sich Leytner bei der Konzeption des Films ansonsten konsequente Zurückhaltung auferlegt hat. Als die Eltern ihren Sohn identifizieren, zeigt er nur ihre Gesichter, nicht den Leichnam. Ähnlich ist sein Umgang mit der Tat. Im Prolog geht ein Junge mit entschlossener Miene durch ein Schulgebäude geht und zückt schließlich eine Waffe; dann folgt eine Schwarzblende, das Krachen des Schusses, der Filmtitel. Ansonsten kommt der Amoklauf nur in den Schilderungen der Zeugen und des ermittelnden Kommissars vor. Zwischendurch sind zwar immer wieder kurze grobkörnige Rückblenden zu sehen, die Felix mit der Pistole zeigen, aber diese Bilder – übrigens das einzige Farbelement in dem sehr unbunten Film - sind zu einem ganz anderen Zeitpunkt entstanden und die Erklärung dafür, warum sich auch seine Schwester Flora (Sophie Stockinger) schuldig fühlt. Der Anteil des Vaters an der Tat ist allerdings ungleich größer und unverzeihlich.
Auch die Mutter ist nicht ohne Schuld, was die Identifikation mit den Eltern natürlich erschwert. Wie fast immer in solchen Geschichten müssen Paula und Michael erkennen, wie wenig sie über ihren Sohn wussten. Dass Felix nichts von seiner vergeblichen Liebe zu einer umschwärmten Mitschülerin erzählt hat, ist dabei weniger beunruhigend als die Tatsache, dass er zu seinem ehemals besten Freund, mit dem er angeblich jeden zweiten Tag zusammen war, außerhalb der Schule gar keinen Kontakt mehr hatte. Wie er diese Zeit wirklich verbracht hat, bleibt ebenso offen wie eine zweite Frage, die viel wichtiger wäre, um "Die Stille danach" über sich hinaus wirken zu lassen: Der Junge ist schon in der Grundschule regelmäßig schikaniert worden; später hat sich das dann potenziert, wie ein ziemlich widerwärtiges Video belegt, das Flora im Internet findet. Vordergründig bietet Leytner also eine Erklärung für die Tat: Aus Sicht von Felix hat das Mobbing irgendwann eine rote Linie überschritten; sein Amoklauf war der Tag der Abrechnung. Der Film erklärt jedoch nicht, weshalb er schon in jungen Jahren zur Zielscheibe seiner Mitschüler geworden ist; und warum er nun die natürliche Hemmschwelle überschritten hat und zum Mörder geworden ist. Mag sein, dass es keine befriedigenden Begründungen gibt, erst recht nicht aus Sicht der Eltern. Filmemacher reagieren auf entsprechende Kritik ohnehin mit dem Hinweis, ihre Filme sollten Fragen aufwerfen, keine Antworten geben; das sei, wenn überhaupt, Aufgabe einer anschließenden Diskussionssendung (in diesem Fall "Maischberger"). Aber vielleicht machen sie es sich damit auch zu einfach.