Kaminer: Ich wollte nicht so leben wie meine Eltern

Kaminer: Ich wollte nicht so leben wie meine Eltern
Eltern prägen die ersten Lebensjahre ihrer Kinder. Mutter und Vater seien auch später im Leben wichtig, sagt der Schriftsteller Wladimir Kaminer. Er hat ein Buch über seine Mutter geschrieben, die in Berlin im selben Haus wie der Autor wohnt.
16.09.2016
epd
epd-Gespräch: Matthias Klein

Berlin (epd). epd: Herr Kaminer, wie wichtig sind Eltern für das spätere Leben ihrer Kinder?

Wladimir Kaminer: Eltern sind sehr wichtig. Viele Leute behaupten, dass sie sich nicht zu ihren Eltern hingezogen fühlen. Aber sie sind nicht nur Kinder Gottes, sie sind auch Kinder ihrer Eltern. Ich glaube, Eltern sind eine Art Spiegel. Sie zeigen einem zum einen, wie man in der Zukunft aussehen wird. Und sie zeigen einem zum anderen, wie man nicht sein will. Meine Eltern waren ein Beispiel für mich, wie ich auf gar keinen Fall leben wollte. Sie waren sehr loyal zur Sowjetunion, ich lehnte den Staat, der auf Gewalt basierte, komplett ab. Sie fühlten sich in ihrer 27 Quadratmeter großen Wohnung in Moskau wohl, denn sie waren sehr bescheiden in ihren Erwartungen an die Möglichkeiten des Lebens. Ich wollte so nicht leben - ich wollte viel erleben und vor allem viel reisen.

epd: Wie haben Ihre Eltern darauf reagiert, dass Sie sich das Leben so anders vorstellten?

Kaminer: Mein Vater entschied, mich auf die Moskauer Theaterschule zu schicken. Ich wollte in diesem verlogenen Staat eigentlich gar nichts machen. Ich habe auf der Theaterschule nichts gelernt, aber sehr viele interessante Menschen kennengelernt. Das Theater war eine Nische in der Sowjetunion, die Leute dort dachten frei. Das war eine ganz andere Lebenshaltung als die meiner Eltern.

epd: Trotz dieser Unterschiede: Sie haben eine sehr gute Beziehung zu Ihrer Mutter, die heute im selben Haus in Berlin lebt. Diesen Eindruck vermitteln Sie in Ihrem Buch. Wie ist das gelungen?

Kaminer: Wir hatten einfach keinen Grund, uns zu zerstreiten. Wir sind uns auch nicht auf den Geist gegangen. Und wann immer jemand in Not war, haben wir uns gegenseitig geholfen. Das ist wirklich ein solidarisches Miteinander.

epd: Spielt es dafür auch eine Rolle, dass Ihre Eltern Sie nicht streng erzogen, sondern einfach machen ließen, wie Sie es in einem Interview erzählt haben?

Kaminer: Ich habe das Gefühl, dass meine Eltern nicht streng mit mir waren. Sie haben mir alle möglichen Freiheiten gelassen. Aber ob meine Mama das auch so sieht, weiß ich nicht. Jeder hat ja eine eigene Vorstellung von der Vergangenheit. Und im Rückblick sieht vieles anders aus. Wenn ich gar nicht mehr weiter wusste, waren meine Eltern immer da. Meine Mutter ist dann gekommen und hat einen Topf gekochter Kartoffeln vorbeigebracht. So passierte es zum Beispiel während meiner Zeit bei der Armee in der Sowjetunion.

epd: Auch heute bringt Ihre Mutter Ihnen ja regelmäßig etwas zu essen vorbei.

Kaminer: Sie kommt immer mit einem Tellerchen zu uns, wenn sie gekocht hat. Meine Frau und meine Kinder mögen das nicht essen. Es ist meine Rolle als Sohn, das dann zu tun. Meine Mutter verbindet kindliche Naivität mit der Weisheit des Alters. Diese Mischung mag ich sehr. Wir leben in einer Welt, in der alle glauben, sie seien schlau und gerissen. Meine Mutter denkt nicht so: Sie sieht, dass die Welt voller Zweifel und Unsicherheit ist. Sie benimmt sich so, als würde sie sozusagen die andere Seite des Teppichs sehen.

epd: Was bedeutet das für Sie als Sohn konkret?

Kaminer: Meine Mutter hatte den großen Wunsch, im Wald Pilze zu sammeln. Sie hatte sich das in den Kopf gesetzt. Also sind wir in Brandenburg in den Wald gefahren. Aber dort ging es auf und ab, es war schwierig für sie, eine Strecke zu laufen. Ich habe sie wieder zurück nach Hause gefahren. Dann habe ich alleine Pilze gesammelt und ihr einen ganzen Korb nach Hause gebracht. Sie hat sich sehr gefreut.

epd: Trotz aller Nähe: Was wollten Sie als Vater bei Ihren beiden Kindern in der Erziehung auf jeden Fall anders als Ihre Mutter machen?

Kaminer: Auch meine Frau und ich versuchen, den Kindern am eigenen Beispiel zu zeigen, was das Leben bedeutet. Wir gehen unseren Kindern nicht auf den Geist. Ich bin überzeugt: Jeder muss selbst seine Erfahrungen machen, selbst auf die Nase fallen. Man kann nicht aus den Erfahrungen von anderen Entscheidendes lernen. Meine Kinder schätzen, dass in unserer Familie drei Generationen zusammen sind - und das nicht nur wegen der Geschenke, die sie dadurch bekommen. Ihnen ist etwas anderes wichtig: Sie merken, dass sie nicht alleine sind.