Berlin (epd). Im September 2015 lobte der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) die überwiegend freundliche Aufnahme der Flüchtlinge in Deutschland als "Antwort auf die Menschenfeindlichkeit der Rechtsextremisten". Ein Jahr später fragt der epd Thierse erneut.
epd: Herr Thierse, ein Jahr nach dem Willkommens-Wochenende für die Flüchtlinge Anfang September: Wie ist Ihre Bilanz?
Wolfgang Thierse: Wir haben eine große Hilfsbereitschaft und ein enormes Engagement sehr vieler Menschen in Deutschland erlebt. Sie wollen eine menschenfreundliche Gesellschaft und allen Formen von Rassismus widerstehen - und zwar tatkräftig. Auf der anderen Seite haben wir einen Teil der Bevölkerung mit Ängsten, mit Abwehr, ja fast mit Hass. Es ist vielleicht übertrieben zu sagen, wir leben in einem gespalteten Land. Aber wir müssen beides sehen, damit man angemessen politisch und moralisch reagieren kann.
epd: Ein Jahr Flüchtlingspolitik ist auch ein Jahr "Wir schaffen das". Ist das weiterhin eine angemessene Haltung?
Thierse: Wir sehen, dass die allgemeine Wiederholung des Satzes "Wir schaffen das" Ängste und Unsicherheit bei einem nicht geringen Teil der Deutschen nicht verringert. Das muss man ernst nehmen: Diese Ängste können nur überwunden werden, wenn tatsächlich bewiesen wird, dass Deutschland eine Million Flüchtlinge aufnehmen und Schritt für Schritt in dieses Land integrieren kann.
Das ist ein Prozess mit großen Schwierigkeiten und vielen Problemen, der Geduld und Ausdauer und große finanzielle Anstrengungen verlangt. Da darf man nichts beschönigen. Wenn Politiker diese Probleme kleinreden, dann sagt der Teil der verunsicherten und ängstlichen Menschen: Die belügen uns. Die sagen uns nicht die Wahrheit. Das forciert ihre Ängste noch.
epd: Wo sollten die größten Anstrengungen unternommen werden?
Thierse: Alle wissen, je größer die Zahl der zu uns Kommenden, umso größer die Probleme der Integration. Das heißt auch, wir brauchen vernünftige, rechtlich einwandfreie, realistisch durchsetzbare und menschlich anständige Wege der Steuerung von Zuwanderung und Einwanderung - und damit auch der Begrenzung. Darum geht der Streit. Das ist für die Regierung - und auch für viele Einzelne - eine schwierige Gratwanderung. Ich erlebe das selbst, wenn ich mit Menschen diskutiere. Sie sagen: Ja, wir wollen helfen. Aber wir wissen auch, dass unsere Hilfsbereitschaft Grenzen hat.
Wir brauchen deutsche wie europäische Regeln für die Einwanderung, die Zuwanderung, für die Steuerung von Flüchtlingsbewegungen. Wir brauchen legale Einwanderungsmöglichkeiten. Da hängt die Politik noch hinterher - die deutsche Regierungspolitik ebenso wie die europäischen Regierungen.