Als eine Frau nach dem Tod ihres Mannes herausfindet, dass er jahrelang ein Doppelleben geführt hat, wird ihr der Gatte quasi über Nacht völlig fremd: Das war der Handlungskern von Jan Schomburgs Regiedebüt "Über uns das All" (2011). In seinem zweiten Film mit dem verspielt-brillanten Titel "Vergiss mein Ich" erzählt er die Geschichte einer Frau, die sich selbst zur Fremden wird: Nach einer zu spät diagnostizierten Gehirnentzündung leidet die Akademikerin Lena Ferben unter retrograder Amnesie. Sie weiß zwar den Namen der Kanzlerin und beherrscht sämtliche Fertigkeiten, die sie sich im Lauf ihres Lebens angeeignet hat, aber sie ist eine Hülle ohne Persönlichkeit, eine Frau ohne Gefühle und Eigenschaften. Ganz gleich, was sie früher für ihren Ehemann, ihre Freunde oder ihren Beruf empfunden hat: Alles ist gelöscht. Soziale Konventionen muss sie ebenso erst wieder lernen wie die richtige Deutung ihrer Empfindungen; und, daraus resultierend, das entsprechende Verhalten.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Sujet an sich ist nicht neu; diverse Dramen und Thriller leben davon, dass Hauptfiguren zu sich selbst zurückfinden müssen, und oftmals gefällt ihnen der Mensch nicht, den sie auf diese Weise kennen lernen. "Vergiss mein Ich" aber ist anders, und das nicht nur, weil Lena Ferben verschwunden bleibt; der Gedächtnisverlust erweist sich als irreparabel. Lena 2.0 entdeckt trotzdem einen Weg zum Ich: Ihre Vorgängerin war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Gender-Forschung, es gibt neben privaten Filmaufnahmen auch Videomitschnitte von Vorträgen über die Geschlechterrollen; also kopiert sie sich kurzerhand selbst.
Vermutlich wären nicht viele Schauspielerinnen in dieser ungewöhnlichen Variante einer Doppelrolle derart glaubwürdig: Maria Schrader muss eine Frau verkörpern, die zunächst völlig unbefangen und in jeder Hinsicht vorurteilsfrei durch die Welt geht und dann nach und nach zur eigenen Doppelgängerin wird; auch körpersprachlich macht sie das großartig. Erneut zeigt sich, welch’ ausgezeichnetes Gespür Schomburg bei der Führung seiner Hauptdarsteller hat; Sandra Hüller (hier in einer Nebenrolle als Lenas beste Freundin) war in "Über uns das All" nicht minder beeindruckend.
Naiv lässt sie sich auf ein Rendezvous mit einem Fremden ein
Johannes Krisch, Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters, ist Schrader als Ehemann Tore ein kongenialer Partner und die tragische Figur der Geschichte: Von einem Tag auf den anderen ist die Frau, die er liebt, verschwunden. Außerdem richtet Lena in ihrer kindlichen Unschuld allerlei Schaden an, wenn sie beispielsweise beim gemeinsamen Abendessen mit den besten Freunden unbefangen aus ihrem Tagebuch just jene Stelle vorliest, in der sie über Tores Affäre mit ihrer besten Freundin schreibt; deren Mann wusste davon bislang allerdings noch nichts. Ähnlich naiv lässt sie sich auf ein Rendezvous mit einem Fremden (Ronald Zehrfeld) ein, der sie unverblümt zum Sex auffordert.
"Vergiss mein Ich" ist ohne Frage ein Drama, aber Schomburg gewinnt der Geschichte dennoch positive Seiten ab: weil es auch eine Chance sei, vom eigenen Ich befreit zu sein und ein neuer Mensch werden zu können. Kein Wunder, dass sein Film, den er ähnlich behutsam inszeniert hat, wie sich Lena in ihr altes Leben zurücktastet, immer wieder mit verblüffend tragikomischen Momenten aufwartet.