Bremen (epd). Das Bremer Staatsarchiv hat am Freitag ein "Erinnerungsbuch" vorgestellt, das erstmals alle Opfer der nationalsozialistischen Medizinverbrechen in Bremen und Bremerhaven aufführt. Für die Publikation hat die Bremer Kulturwissenschaftlerin Gerda Engelbracht insgesamt 822 Namen recherchiert. Über Jahrzehnte seien sie im kollektiven Gedächtnis der Stadtgesellschaft nicht präsent gewesen, ihr Schicksal schien vergessen, sagte der Leiter des Staatsarchivs, Konrad Elmshäuser. Er und mit ihm viele andere hätten die Zahl der Opfer völlig unterschätzt: "Eine schreckliche Bilanz, die mich geschockt hat."
Ärzte, Verwaltungsfachleute und Pfleger beteiligt
Dass es nun einen Ort gebe, an dem die Opfer mit vollem Namen genannt würden, sei "ein Novum" in Deutschland, ergänzte Elmshäuser. Engelbracht hat die Namen von kranken und behinderten Kindern, Jugendlichen, Frauen und Männern recherchiert, die nach der Rassenideologie der Nationalsozialisten als "lebensunwert" diffamiert und getötet wurden. Daran seien ganz normale Ärzte, Verwaltungsfachleute und Pfleger unter einer menschenverachtenden Ideologie beteiligt gewesen, sagte die Wissenschaftlerin.
Bis heute gibt es Engelbracht zufolge "ein verbreitetes Tabu", Namen der Opfer von NS-Medizinverbrechen zu benennen. Ähnliche Bücher sind nach ihren Informationen in München und in Hamburg geplant. In Leipzig und in Wuppertal gebe es Online-Portale, die aber weniger Informationen böten.
Die Bremer Publikation ermöglicht auf 252 Seiten erstmals einen Blick auf alle bekannten Opfer der NS-Medizinverbrechen in Bremen und Bremerhaven. Sie nennt nicht nur ihre Namen, sondern auch die Orte des Verbrechens sowie Täter, Beteiligte und Zeitumstände.
"Stigmatisierung existiert teilweise heute noch"
Individuellen Schicksalen hat Engelbracht exemplarisch Raum gegeben, indem sie elf ausgewählte biografische Skizzen, Fotografien und Dokumente aufführt. Wer über die Verbrechen gesprochen habe, sei auch in den Jahren nach dem Krieg als Nestbeschmutzer beschimpft worden, berichtete Hans Walter Küchelmann (79), dessen behinderte Schwester 1942 im Alter von drei Jahren in Lüneburg starb.
Mit Blick auf die Tötung kranker und behinderter Menschen habe es in der nationalsozialistischen Gesellschaft eine hohe Akzeptanz gegeben, sagte der Leiter der Bremer Landeszentrale für politische Bildung, Thomas Köcher. "Diese Stigmatisierung existiert teilweise heute noch." Deshalb müsse die gesellschaftliche Diskussion um lebenswertes und lebensunwertes Leben genau verfolgt werden.
Das Buch begleitet die Wanderausstellung "Erfasst, verfolgt, vernichtet", die am Mittwoch im Bremer Rathaus eröffnet werden soll. In Deutschland wurden ab 1934 bis zu 400.000 Menschen gegen ihren Willen sterilisiert und mehr als 200.000 Menschen aus Heil- und Pflegeanstalten ermordet.