Motorengeräusche oder Vogelgezwitscher, Hochhäuser oder grüne Wiesen, Gemeindehaus oder Konventgebäude: Unterschiedlicher könnten zwei Orte wohl kaum sein. Dennoch eint das Rogate-Kloster Sankt Michael zu Berlin und das Kloster Kirchberg in Sulz am Neckar mehr als es zunächst scheint. Beide sind keine traditionellen Klöster.
Für Rogate-Bruder Franziskus ist die Idee, die hinter einem Kloster steckt, ohnehin wichtiger als die Erfüllung herkömmlicher Kloster-Konventionen: "Für uns ist ein Kloster die Verbundenheit dahinter, also dass wir mehr zusammen machen als in einer Kirchengemeinde." Der 48-jährige Journalist hat das Rogate-Kloster vor drei Jahren gegründet und ist seitdem Vorsitzender der Gemeinschaft. Sein evangelisches Theologiestudium hat er vorzeitig abgebrochen, aber: "Das mit der Kirche hat mich nie losgelassen", sagt Bruder Franziskus.
Zu Hause in den Gottesdiensten
Nach seinem Umzug nach Berlin ist er auf der Suche nach einer Kirchengemeinde auf die Zwölf-Apostel-Gemeinde gestoßen. Auch wenn er sich darin zwar wohlgefühlt habe, ganz angekommen war der 48-Jährige nicht: "Ich wollte das Gemeindeleben ergänzen und etwas einbringen, das ich kann, nämlich Gottesdienste gestalten", erzählt Bruder Franziskus. Also habe er 2009 eine ökumenische Gottesdienst-Initiative gegründet, aus der dann später das Rogate-Kloster entstanden ist.
Den "geschlossenen Raum" eines Klosters begreift Bruder Franziskus als eine Metapher: "Der geschlossene Bereich, das sind für uns die Gottesdienste, die wir darunter verstehen." Also Gottesdienste, die der Spiritualität der Rogate-Gemeinschaft entsprächen und in denen sich die Mitglieder zu Hause fühlten. Insgesamt würde das Kloster etwa zwei Gottesdienste pro Woche feiern, und zwar immer abends. Schließlich seien ja die meisten Kloster-Mitglieder berufstätig, sagt Bruder Franziskus. Davor oder danach sei zudem immer Zeit für ein gemütliches Beisammensein.
Im Gegensatz zum Rogate-Kloster kann das Kloster Kirchberg zwar einen Gebäudekomplex vorweisen. Malerisch fügen sich Kreuzgang, Konventgebäude und Klosterschenke des ehemaligen Dominikanerinnenklosters in die Landschaft zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb ein. Mönchen und Nonnen sind im altehrwürdigen Domizil aus dem frühen 13. Jahrhundert aber ebenfalls nicht vertreten. Stattdessen wird das Kloster vom Verein Berneuchener Haus und den Mitgliedern der drei Berneuchener Gemeinschaften getragen.
Die drei Berneuchener Gemeinschaften, das sind der Berneuchener Dienst, die Evangelische Michaelsbruderschaft und die Gemeinschaft St. Michael. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich 1931 zunächst der Berneuchener Dienst (ursprünglich Berneuchener Kreis) und die Evangelische Michaelsbruderschaft als geistliche Gemeinschaften gegründet. Während dem Berneuchener Dienst sowohl Frauen und Männern angehören, ist die Michaelsbruderschaft nach wie vor allein Männern vorbehalten. Mit den beiden Gemeinschaften wollten die Gläubigen die Kirche erneuern. Ein besonderes Anliegen war ihnen dabei die Umgestaltung der Gottesdienste hin zu mehr Feierlichkeit und Struktur.
Auf der Suche nach einer gemeinsamen Niederlassung übernahmen der Berneuchener Dienst und die Michaelsbruderschaft 1958 zusammen die Trägerschaft für das Kloster Kirchberg. 1988 wurden die zwei Gruppierungen um die Gemeinschaft St. Michael als eine überkonventmäßige Gemeinschaft für Männer und Frauen ergänzt. Alle drei Gemeinschaften gehören inzwischen dem Treffen der geistlichen Gemeinschaften an, einem Zusammenschluss geistlicher Gemeinschaften in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
Insgesamt zählen die Berneuchener Gemeinschaften heute rund 500 Mitglieder, sagt Matthias Gössling. Der Pfarrer ist seit 1995 Mitglied in der Gemeinschaft St. Michael und seit 2011 Geistlicher Leiter des Klosters Kirchberg. Für den gebürtigen Westfalen ist das Kloster "eine Traumstelle": "Ich finde es schön, dass ich hier einerseits für die Stundengebete und die Gottesdienste verantwortlich bin und andererseits seelsorglich mit den Gästen vertraut bin." Pro Jahr verbuche das Kloster rund 17.000 Übernachtungen, die Gäste kämen zur Erholung vom Alltag, reisten in Gruppen zu Freizeiten an oder nähmen an Tagungen der Berneuchener Gemeinschaften teil, sagt Gössling.
Gottesdienst mit Suchtpotenzial
Auch Hanspeter Burkhard macht für eine Woche Urlaub bei Matthias Gössling und den acht weiteren Bewohnern des Klosters auf dem Kirchberg. Für ihn sei es das erste Mal, dass er ein Kloster besuche, sagt der 63-jährige Buchhändler. Doch obwohl er anfangs skeptisch gegenüber den Gottesdiensten und ihrer strengen Liturgie gewesen sei, fühle er sich schon seit seiner Ankunft im Kloster "total angekommen". Und nach den Gottesdiensten sei er inzwischen sogar süchtig, erzählt Burkhard begeistert.
Vier Mal am Tag wird im Kloster Kirchberg gebetet. Die Tagzeitengebete folgen stets einer festen Struktur: Es gibt einen Vorbeter, einen Kantor und meistens auch einen Küster und einen Lektor, beim Eintritt in die Kirche bekreuzigt man sich, später wird gregorianisch gesungen. "Im Grunde ist der Alltag hier ein fortlaufendes Gebet", sagt Lothar Müller, Assistent von Matthias Gössling und Mitglied in der Michaelsbruderschaft. Entsprechend seien auch die Prioritäten auf dem Kirchberg komplett verschoben im Vergleich zur Welt außerhalb der Klostermauern. "Das Kloster ist ein sehr besonderer Ort, an dem man zur Ruhe kommt und an dem man durch die Tagzeitengebete eine Art Seelenhygiene betreibt", schwärmt Müller.
Zur Ruhe kommen ist etwas, das dem Rogate-Bruder Franziskus fremd zu sein scheint: "Ich brauche es wirbelig", sagt der Wahl-Berliner und räumt hastig die wichtigsten Utensilien für den Gottesdienst am Abend zusammen: Weihrauch, Kerzen und eine riesige Regenbogenflagge. Mit dieser wird später der Altar in der Zwölf-Apostel-Kirche geschmückt. Anlass ist der Eröffnungsgottesdienst zum 24. schwul-lesbischen Straßenfest in Berlin im Juli.
Das Rogate-Kloster ist ganz nah dran am Leben. Offenheit gegenüber verschiedenen sexuellen Orientierungen ist in den Gottesdiensten genauso Thema wie die Segnung von Tieren. "Ich habe vor der Kirche immer Leute gesehen, die einzeln mit ihren Hunden unterwegs sind, aber nie in die Kirche kommen", erzählt Bruder Franziskus. Deshalb biete er inzwischen einmal im Jahr einen Gottesdienst für Menschen und ihre Tiere an. "Diese Offenheit ist uns total wichtig und eben diese Akzeptanz der Vielfalt", betont der 48-Jährige.
Entsprechend locker handhabt es das Kloster auch mit dem Umgang mit den verschiedenen Zugehörigkeitsformen zum Kloster. Ob Mitglied im Kloster-Verein, in der engeren Rogate-Gemeinschaft oder ehrenamtlicher Unterstützer ohne Mitgliedschaft, ob lutherisch, katholisch oder reformiert: "Wir schauen gar nicht, was uns trennt, sondern wir suchen das Verbindende", sagt Bruder Franziskus. Das Kloster funktioniere auch nicht wie eine traditionelle Gemeinde und es sei egal, wer welcher Religion angehöre. Die Leute seien beim Rogate-Kloster vielmehr dabei, weil sie sich dort wohlfühlten, sagt der 48-Jährige. Für die Anerkennung durch die regionale Landeskirche der EKD muss aber dennoch zumindest der Hauptteil der Mitglieder evangelisch sein.
Erst Skepsis, später Offenheit
Ähnlich wie im Kloster Kirchberg gibt auch im Rogate-Kloster der feierlich gehaltene Gottesdienst der Vielfalt einen Rahmen. Erhaben hallen die gregorianischen Gesänge von den Mauern der Zwölf-Apostel-Kirche beim abendlichen Gottesdienst wider, die Luft ist von Weihrauch geschwängert und die Kerzen rings um den Altar hüllen die Kirche in ein warmes Licht. "Ich glaube, dass wir alle Freude an der gottesdienstlichen Spiritualität haben", sagt Bruder Franziskus. Und auch wenn manche Mitglieder der Zwölf-Apostel-Gemeinde anfangs skeptisch gewesen seien, ob das Rogate-Kloster tatsächlich überhaupt evangelisch ist - die Gemeinde sei dem Kloster gegenüber stets aufgeschlossen gewesen.
Auch den Berneuchener Gemeinschaften im Kloster Kirchberg sind die umliegenden Gemeinden anfangs mit Skepsis begegnet. "Die Leute hatten Angst, dass auf dem Kirchberg eine Sekte eingezogen ist", erzählt Matthias Gössling. Inzwischen ist das Kloster in der Region aber eine feste Institution. Wanderer und Ausflügler kehren häufig in der Klosterschenke ein und kaufen ein Mitbringsel im Klosterladen. Dieser wird von Ehrenamtlichen aus dem Umkreis betrieben.
Für die ehrenamtliche Verkäuferin Ingrid Kleinbach etwa ist der kleine Laden "wie eine Brücke zwischen dem Kloster und der Welt da draußen". Und Lothar Müller nennt das Kloster Kirchberg sogar "ein Stück Himmel auf der Erde". Ein Verbindungsglied zur "Welt da draußen" braucht das Berliner Rogate-Kloster hingegen nicht. Mit ihrer Lage direkt gegenüber vom Straßenstrich ist die Zwölf-Apostel-Kirche automatisch mittendrin im Hauptstadt-Trubel. Bruder Franziskus vergleicht die Zwölf-Apostel-Gemeinde mit einem "Schmelztiegel". Doch so viel Distanz zwischen den knapp 700 Kilometer voneinander entfernten Orten auch liegen mag und auch wenn beide keine klassischen Klöster sind: Die tiefe Spiritualität ist sowohl bei den Menschen im Kloster Kirchberg als auch bei den Mitgliedern des Rogate-Klosters spürbar.