Kein anderes Reformprojekt in der Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat so starke Kräfte der Bewegung und zugleich der Beharrung freigesetzt: Am 6. Juli 2006 wurde das Impulspapier "Kirche der Freiheit" veröffentlicht. Vieles, was vor zehn Jahren noch für Streit sorgte, ist inzwischen selbstverständlich im Alltagsgeschäft der Protestanten geworden. Doch manche der ambitionierten Vorhaben blieben auf der Strecke.
Angesichts sinkender Mitgliederzahlen und schwindender Finanzkraft hatte eine zwölfköpfige Arbeitsgruppe unter Leitung des damaligen Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber "Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert" skizziert. Die 100 Seiten starke Schrift richtet sich auf das Jahr 2030 aus: Dann gebe es ein Drittel weniger Kirchenmitglieder und nur noch die Hälfte des Budgets, so die Prognose. Um die Kirche unter diesen alarmierenden Eckdaten handlungsfähig zu halten, wurden tiefgreifende Reformvorschläge entwickelt. Gemeindestrukturen, Gottesdienstformen, inhaltliche Angebote und organisatorischer Überbau - nichts war tabu.
Viele Engagierte - aber auch viele "Kunden"
Heftige Reaktionen blieben nicht aus, besonders aus der organisierten Pfarrerschaft und der Hochschul-Theologie, aber auch aus manchen Landeskirchen: Deren Zahl, so der Vorschlag, sollte von damals 23 auf acht bis zwölf sinken - kleinere Kirchen sahen sich in ihrer Existenz bedroht. Und viele Pastoren waren düpiert, weil plötzlich nach der Qualität von Taufen, Hochzeiten und Beisetzungen gefragt wurde. Wörter wie "Taufquote" erinnerten sie nicht an die Luther-Bibel, sondern an Manager-Seminare.
Erkennbar hatten an dem umstrittenen Papier nicht nur Theologen und Kirchenjuristen, sondern auch ein McKinsey-Berater, eine Bankdirektorin, ein PR-Profi und eine Meinungsforscherin mitgeschrieben. "Wachsen gegen den Trend" hieß der ambitionierte Leitgedanke. In einer der Thesen - "Leuchtfeuer" genannt - heißt es: "Im Jahre 2030 haben sich bei den kirchlichen Mitarbeitenden Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft, Qualitätsbewusstsein und Identifizierung mit den kirchlichen Aufgaben signifikant erhöht."
Angefeuert durch solche Formulierungen wurde eine intensive Debatte auf allen Ebenen der Kirche geführt. Eine Viertelmillion mal war das Papier im Internet abgerufen worden. Bei großen Kongressen in Wittenberg und anderswo, die das Wort "Zukunft" im Namen trugen, wurde fortan erklärt und diskutiert, vorgeprescht und zurückgerudert.
Wer "Kirche der Freiheit" nach zehn Jahren wieder liest, kann die Aufregung kaum noch nachvollziehen. Denn vieles ist umgesetzt. Die Forderung nach guten Gottesdiensten und attraktiven Angeboten ist heute Allgemeingut. Die Impulse der 2008 geschaffenen "Kompetenzzentren" für die Mission in der Region, für die Qualität von Gottesdiensten und für Predigtkultur werden in vielen Gemeinden aufgegriffen. Kaum eine Landeskirche, die nicht ihren eigenen Reformprozess angestoßen hat.
Es gibt aber auch Ernüchterung: Unter den Kirchenmitgliedern gebe es zwar viele Engagierte, aber "noch eben viele Menschen, die sich zunächst als Kunden verstehen", hat Thomas Begrich erfahren, langjähriger EKD-Finanzchef und einer der Motoren der Reform. Die Volkskirche sei ein schwerfälliges Unternehmen.
So sind von den 23 Landeskirchen noch 20 übrig. Zusammenschlüsse hat es vor allem im Osten gegeben, in Mitteldeutschland und im Norden. Immer noch sind aber die zwei kleinsten Kirchen, Anhalt und Schaumburg-Lippe, selbstständig.
"Ich sehe keine wirklichen Alternativen"
Dank unerwartet guter Konjunktur hätten sprudelnde Kirchensteuern den Reformdruck verwässert, räumt Thies Gundlach ein. "Aber zugleich bin ich zutiefst dankbar für diesen Segen", sagt der Vizepräsident des EKD-Kirchenamtes und Verantwortliche für das "Reformbüro". Mit dem Geld könne man beispielsweise aktuell Flüchtlingen in Not helfen. Nicht zuletzt könne die evangelische Kirche das Reformationsjubiläum 2017 gestalten, von dem der Theologe eine "große missionarische und orientierende Kraft" erwartet.
Nach der großen Feier könnte allerdings die große Ernüchterung folgen. Die Finanzverantwortlichen in Landeskirchen rechnen spätestens zum Ende des Jahrzehnts mit knapperen Kassen. Dann kann das Thema Reform wieder Konjunktur bekommen. "Ich sehe ehrlich gesagt keine wirklichen Alternativen zu den zentralen Orientierungspunkten des Impulspapiers, falls der Reformdruck wieder zunehmen sollte", sagt EKD-Theologe Gundlach. Denn auch die Erfolge seit 2006 könnten nicht darüber hinwegtäuschen: "Wir werden kleiner, ärmer und älter."