An diesem ehemaligen Teppichladen würde wohl jeder achtlos vorbeigehen. Der unansehnliche Flachbau steht zwischen 50er-Jahre-Wohnblocks im Hamburger Arbeiterstadtteil Barmbek-Süd. Doch wer sonntagmorgens auf der Suche nach der Anskar-Gemeinde Hamburg-Mitte ist, weiß sofort: Dies muss das Kirchenhaus sein. Während drumherum um kurz vor zehn Uhr noch alles verschlafen liegt, ist hier ordentlich was los.
An der Eingangstür steht ein Mann, der Neuankömmlinge mit "Hallo, ich bin Jörg, komm herein!" begrüßt, was sehr einladend wirkt. Im Vorraum stehen Alte und Junge in Grüppchen, am Kickertisch spielen drei Jungs. Die Stimmung ist locker, als ob gleich ein Fest gefeiert wird, bei dem alle willkommen sind. Der Pastor der Gemeinde, Tillmann Krüger, steht im leger gestreiften Hemd dabei. "Es sind noch nicht alle da. Manche kommen, wenn sie ausgeschlafen haben, das kann ich ihnen nicht abgewöhnen", sagt er mit einem verschmitzten Lächeln. Krüger wird an diesem Pfingstsonntag in der Band spielen. Den Gottesdienst leitet Anja Bender, die seit einem Jahr ordiniert ist. Schon eilt Pastor Krüger durch die Glastür in einen großen Raum und zu den Instrumenten, die vorn auf der Bühne stehen.
"Singt für ihn und das nicht zu leise"
Es ist ein toller Ort, den sich die Gemeinde geschaffen hat. Wo einst Rolltüren vom Foyer ins Teppichlager führten, ist eine Glaswand gezogen. Dahinter liegt der helle, fast quadratische Gottesdienstraum. Durch Deckenlichter und breite Fenster fällt Sonnenschein, in einer Ecke ist ein Mischpult eingerichtet, in der anderen liegen zwei Spielteppiche für Kinder, der Gang zwischen den Stuhlreihen führt auf die erhöhte Bühne zu. Dort steht vorn ein Lesepult aus Plexiglas, dahinter ein gläsernes Triptychon, in dem ein ebenfalls gläsernes Kreuz hängt. Auf einer Seite der Bühne ist das Equipment einer kompletten Band aufgestellt: Keyboard, Bass, zwei Gitarren, ein Verstärker. Ein Ambiente wie gemacht für Theateraufführungen, Kammerkonzerte – und für die Gottesdienste dieser charismatisch-evangelikalen Gemeinde.
330 Mitglieder hat die Anskar-Kirche Hamburg-Mitte, darunter 40 Kinder. Manche der bereits Anwesenden laufen noch umher, begrüßen Bekannte, Kinder toben herum. Eine blonde Frau im weißen Talar und mit roter Stola über den Schultern geht auf die Bühne. Im Saal ebbt das Gemurmel ab und sie hebt an: "Wir loben und preisen Dich, Herr. Es ist Pfingsten, der Heilige Geist ist auf den Menschen gegossen worden, er schüttet unverdiente Liebe in dein Herz aus!" Gitarrenmusik ertönt, das Eingangslied wird gespielt, zeitgleich flimmert der englische Songtext über einen Beamer an der Wand auf. Pastorin Bender ruft: "Steht auf und lasst uns in Anbetungshaltung gehen. Seid willkommen!" Von den vorderen Stuhlreihen rufen einige Frauen "Halleluja!" und "Jaa, jaa!"
"Betet Gott an!", fordert Bender auf und hebt die Arme. "Lobpreist! Stimmt ein! Ihr könnt es!" Sie beginnt einen summenden Gesang aus unverständlichen Wörtern, zwischendrin ermuntert sie die Zuhörer: "Fühl dich frei!" Die Gemeinde beginnt ebenfalls ein Summen, das schnell lauter wird, einige stöhnen. "Komm, komm, Heiliger Geist, wohne in unseren Herzen, lasse Dein Feuer fallen." Die meisten halten nun die Arme gestreckt und Handflächen nach oben, einige wiegen sich hin und her, ein paar bleiben sitzen. "Er schenkt dir, was du brauchst!" Gitarre und Keyboard setzen ein, an die Wand gebeamt ist zu lesen: "Your presence Lord!" Einige jauchzen, dann fangen alle an zu singen: "Los, kommt! Singt für ihn und das nicht zu leise. Und tu's auf deine Weise, ganz egal, wie dein Nachbar schaut… "
Altes Testament in Alltagssprache
Schnell kam die Ekstase in den Gottesdienst, der zwei Stunden dauern wird. Diese gebannte, geballte Hinwendung zur Bühne wirkt irritierend, doch immer wieder tauchen vertraute Elemente auf. Die Gottesdienste der Anskar-Kirche orientieren sich an der lutherischen Liturgie und werden durch freie Elemente ergänzt: Auf Eingangslied und -gebet folgen Lobpreis, prophetische Worte und der Zeugnisteil, anschließend eine etwa halbstündige Predigt, das Abendmahl, Ankündigungen und der aaronitische Segen. "Wir bringen eine Art Crossover aus Liturgie und Freikirche ein. Dass wir zum Beispiel eine Band haben, ist ja nicht üblich. Doch das ist heutzutage die zeitgemäße Musik, die Orgel war es einst", erklärt Pastor Krüger später. Der 41-Jährige übernahm vor neun Jahren von Wolfram Kopfermann die Leitung der Gemeinde, seit drei Jahren steht er zudem der Anskar-Kirche Deutschland vor.
Um halb elf sind endlich alle da. Der Saal ist fast voll. Rund 200 Stühle sind besetzt und an den Seiten auf den Bänken sitzen auch ein paar. Zwischen 70 und 80 Prozent der Gemeindemitglieder kommen jeden Sonntag zum Gottesdienst, das Gros ist zwischen 25 und 60 Jahre alt. "Gibt es Gäste heute bei uns?", fragt nun Pastorin Bender. Drei, vier Arme strecken sich in die Höhe. "Woher kommst du? Aus Osnabrück, hey, danke!" Eine Frau geht zu den Gästen und verteilt Geschenke: einen Stift, einen Gutschein für eine Predigt-CD und Flyer. "Genießt die Zeit", wünscht die Pastorin und beginnt, das Glaubensbekenntnis zu singen: Ich glaube an den Vater, den Schöpfer der Welt, Gott allmächtig. Der Gesang wird stärker, wie ein Sog nimmt er jeden mit. "Ja, ich liebe Dich", ruft eine Frau. Gitarrenriffs setzen ein, ein Lied folgt, dann tritt eine Mittdreißigerin vor. "Ich möchte Zeugnis reden. Wir ziehen um mit drei Kindern. Dass das klappt... – Gott ist irgendwie cool. Und wir haben sogar schon einen Kitaplatz. Gott ist gut." Die Gemeinde klatscht.
Kurz vor elf Uhr beginnt die Predigt von Tillmann Krüger. Er freue sich, beginnt er, dass es hier Gottesdienst so freudig sei, das sei okay, denn Emotionen seien Teil des Seins. Die Predigt wird aufgenommen und steht kurz darauf im "Predigtspieler" auf der Anskar-Website zum Nachhören. An diesem Pfingstsonntag liest Krüger aus der Zürcher Bibel Hesekiel 36, Vers 26 bis 27: " ...und ich werde euch ein neues Herz geben… ". Er erklärt den Kontext, dass es sich um einen apokalyptischen Text handele und splittet die Verse auf, Stichworte werden an die Wand gebeamt: 1. Ein neues Herz. 2. Gottes Geist ist in uns. 3. Sichtbare Auswirkung. Pastor Krüger beginnt zu erklären, zu interpretieren. Wenn er aus der Bibel zitiert, erklärt er in lockerer Alltagssprache den Inhalt, nimmt so die Leute mit. "Ich will euch ermutigen an Pfingsten, dass der Heilige Gott in euch Wohnung genommen hat und wirken will. Das ist total cool. ... Wir danken dir dafür, dass wir immer wieder in unseren kindlichen Glauben treten dürfen. Amen."
"Komm, Heiliger Geist, erwecke uns!"
Krüger kommt ursprünglich aus der lutherischen Kirche, hat in Hessen-Nassau mit Pfarrern gearbeitet. Seine Motivation, in die Freikirche zu gehen, erklärt er bereitwillig. "Ich habe vor meinem Studium viele Pfarrer gefragt: Was ist gut an eurem Job, was würdet ihr mir raten? Da haben mir viele, die an der Universität Theologie studiert haben, erzählt, dass es für sie eine schwere Zeit war. Manche haben gesagt: 'Ich bin mit kindlichem Glauben da hinein gegangen und mit einem aufgeklärten Glauben herausgekommen, aber ich habe etwas verloren.' Ich habe mich gefragt: Will ich das? Und habe mich entschieden, an der freien theologischen Hochschule Gießen zu studieren." Mit Krüger fand der Generationenwechsel in der Anskar-Kirche statt, der eloquente Geistliche etabliert neue Formate wie die Anskar-Kongresse und er will mehr junge Leiter ausbilden.
Im Gottesdienst geht es nach der Predigt weiter mit der Feier des Abendmahls. Ein Schale mit Brot wird im Saal von einem zum anderen gereicht und ein Kelch mit Wein, aus dem alle trinken. Der Beamer zeigt Abendstimmung auf einem See. Pastorin Bender begleitet das Ritual mit Worten: "Komm, Heiliger Geist, erwecke uns!" Murmelnd spricht die Gemeinde nach. Nun folgen Fürbitten, die Kollekte wird eingesammelt, die Band spielt ein leicht rockiges Lied mit dem Text: "Ich kann nur staunen, Herr! Ich sing: Du bist gut..."
Die Ankündigungen folgen, der Hinweis auf den Heilungsgottesdienst am nächsten Sonntag, dann kommt Pastor Krüger noch einmal und berichtet von der Aktion "100 mal 25": "Wir wollen von sechs auf zwölf Gemeinden wachsen und wir suchen Leute, die 25 Euro im Monat spenden." Pastorin Bender spricht den Schlusssegen. Manche gehen nun, viele bleiben und reden miteinander. Es wird viel gelacht. Die Ekstase, das Gebanntsein der Menschen während des Gottesdienstes ist wie weggeblasen und es wirkt wieder wie auf einem sehr angenehmen, großen Fest.