Es ist schon bemerkenswert, wie es den Sendern immer wieder gelingt, mit den Protagonisten seiner Sonntagskrimis für Überraschungen zu sorgen. Die Kunst der Figurenentwicklung besteht darin, gewohnte Pfade zu verlassen, ohne das Personal mit allzu absurden Merkmalen zu versehen. Das wird selbst für ein exzellentes Team wie die Brüder Friedemann Fromm ("Unter Verdacht", "Weissensee") und Christoph Fromm ("Spieler", "Die Katze") eine Herausforderung gewesen sein. Beide sind als Solisten vielfach ausgezeichnet, als Duo haben sie unter anderem die Bücher zu den Mehrteilern "Die Grenze" und "Die Wölfe" geschrieben. Mit dem weiblichen Teil des neuen "Polizeiruf"-Teams aus Magdeburg bereichern die beiden die an illustren Figuren wahrlich nicht arme Krimilandschaft um eine unverwechselbare Heldin: Doreen Brasch (Claudia Michelsen) verleiht dem Begriff Handgreiflichkeit eine ganz neue Note, weil sie als Ex-SEK-Beamtin selbst Muskelprotze mit einer raschen Handbewegung außer Gefecht setzen kann. Auch sonst pflegt die Motorradfahrerin einen recht rustikalen Stil. Viel interessanter und emotionales Herzstück des Auftaktfilms aber ist die Beziehung zu ihrem Sohn (Vincent Redetzki): Andi ist zwanzig und Neonazi. Doreen, Ex-Punkerin und von allen bloß Brasch genannt, hat den Kontakt vor einigen Jahren abgebrochen, aber nach dem Mord an einem Schwarzafrikaner muss sie sich wohl oder übel mit Andi auseinandersetzen, denn er gehört zu den Verdächtigen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Ostdeutsche Politiker werden die Botschaft des Film vermutlich verheerend finden, schließlich arbeiten sie seit vielen Jahren gegen das rechtslastige Image ihrer Bundesländer an: Die jeweils vielfach ausgezeichneten Brüder Fromm entwerfen das Bild einer Gesellschaft, die auf allen Ebenen von Neonazis durchsetzt ist; letztlich sind die Jugendlichen bloß Spielball nicht bloß ideologischer, sondern auch wirtschaftlicher Interessen. Zunächst aber muss sich Brasch einer anderen Figur aus ihrer Vergangenheit widmen: Der afrikanische Asylbewerber wurde allem Anschein nach in einem neueröffneten Fitnessstudio erschossen. Womöglich wollte er den Besitzer erpressen, denn Victor Koslow (Merab Ninidze) handelt mit illegalen Anabolika; und mit diesem Victor war die Kommissarin vor langer Zeit mal liiert. Aber dann stellt sich raus, dass das Opfer schon tot war, als es "erschossen" wurde.
Natürlich ist die Hauptfigur auch Reizfigur, zumal sich Brasch gern über Regeln hinwegsetzt. Ihr Vorgesetzter (Felix Vörtler) findet es verständlicherweise gar nicht lustig, dass sie ihn nicht über ihre Beziehungen zu den verschiedenen Verdächtigen informiert. Gegenspieler der Kommissarin ist aber nicht der Chef, sondern der Kollege: Ähnlich wie bei den Frankfurter "Tatort"-Beiträgen mit Nina Kunzendorf und Joachim Król wird die intuitiv ermittelnde Kriminalistin um einen korrekten Kopfmenschen ergänzt. Sylvester Groth verkörpert diesen Drexler als steifen Prinzipien- und Paragrafentypen, dem die Eskapaden seiner ungeliebten Partnerin ein Gräuel sind. Um so schöner sind Momente wie jener, als der stets auf sein Äußeres bedachte Beamte einen unverzeihlichen Verstoß gegen seine Kleiderordnung bloß mit einem Zucken der Augenbraue quittieren kann.
Wie beim "Polizeiruf" aus Rostock birgt der biografische Hintergrund der Figuren noch viel Potenzial für den horizontalen Erzählstrang. Dazu gehört zum Beispiel Braschs kriminelle Vergangenheit sowie die Frage, wer wohl Andis Vater ist; aber auch Drexler dürfte über kurz oder lang andere Seiten offenbaren. Claudia Michelsen ist in dieser für ihre Verhältnisse ungewöhnt körperbetonten Rolle zudem eine äußerst reizvolle Besetzung; unter Friedemann Fromms Führung wirkt selbst eine Schlägerei zwischen Mutter und Sohn nicht völlig übertrieben.