Berlin (epd) Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) will die Aufarbeitung von Verbrechen in der deutschen Sektensiedlung "Colonia Dignidad" in Chile maßgeblich vorantreiben. Dafür habe er in diesem Fall die gesetzliche Schutzfrist zur Öffnung der Akten des Auswärtigen Amtes von 30 auf 20 Jahre verkürzen lassen, sagte der SPD-Politiker am Dienstagabend in Berlin. Bislang seien die Unterlagen nur bis zum Jahr 1985 zugänglich. Mit der nun getroffenen Entscheidung könnten auch "die gesamten Akten der noch wichtigen Jahre von 1986 bis 1996 für die Wissenschaftler und auch für die Medien zugänglich" gemacht werden. Opfer und Menschenrechtler zeigten sich erleichtert über diese Regelung.
Folterzentrum des Geheimdienstes
Steinmeier räumte ein: "Nur sehr langsam hat das Auswärtige Amt die Dimension des Problems 'Colonia Dignidad' verstanden." Über viele Jahre hinweg hätten deutsche Diplomaten "bestenfalls weggeschaut, jedenfalls eindeutig zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan", erklärte der Außenminister. Auch nach der Auflösung der Colonia habe das Auswärtige Amt "die notwendige Entschlossenheit und Transparenz vermissen lassen, seine Verantwortung zu identifizieren". Nur Einzelpersonen sei es zu verdanken, dass die Ereignisse in der Sektensiedlung Schritt für Schritt in die Öffentlichkeit gelangt seien, sagte der Außenminister.
Die "Colonia Dignidad" (dt.: "Kolonie der Würde"), rund 400 Kilometer südlich der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile, war Anfang der 60er Jahre von dem Deutschen Paul Schäfer gegründet worden. Über Jahrzehnte gab es schwere Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs, Freiheitsentzug und medizinischer Zwangsbehandlungen. Während der Diktatur von Augusto Pinochet (1973-1990) diente die Siedlung zudem als Folterzentrum des Geheimdienstes. Sowohl Geheimdienstmitarbeiter als auch Sektenmitglieder sollen an den Menschenrechtsverletzungen beteiligt gewesen sein.
Steinmeier gestand ein, dass deutsche Diplomaten etwa geflohenen Sektenmitgliedern keine Unterstützung geleistet hätten. Stattdessen seien die Betroffenen zurückgeschickt worden und hätten sich in späteren Fluchtversuchen an die kanadische Botschaft gewandt.
Novum in deutscher Vergangenheit
Menschenrechtler und Betroffene begrüßten Steinmeiers Äußerungen. Der Menschenrechtsaktivist Dieter Maier sagte, es sei ein Novum in der deutschen Geschichte, dass ein amtierender Minister die Vergangenheit seiner eigenen Behörde kritisiere und Akten zu dem Thema öffnen lasse. "Das sollte Schule machen", sagte Maier. Auch direkt betroffene Opfer schlossen sich dem an, forderten jedoch weitergehende Schritte. So müsse etwa über Rentenzahlungen für Opfer nachgedacht werden, sagte Anna Schnellenkamp. Nach Jahren der unentgeltlichen Zwangsarbeit hätten viele ehemalige Sektenmitglieder nicht für ihr Alter vorsorgen können und dürften am Ende ihres Lebens nicht unter Altersarmut leiden.
Wolfgang Kneese, der ebenfalls in der Sektensiedlung gelitten hatte, forderte unterdessen mehr Bewegung im Bundesjustizministerium. Es sei unerträglich, dass der nach Deutschland zurückgeflohene Sektenarzt, Hartmut Hopp, hier auf freiem Fuß lebe, sagte Kneese. Hopp war in Chile zu fünf Jahren Freiheitsstrafe wegen Beihilfe zum Kindesmissbrauchs verurteilt worden, konnte sich jedoch absetzen, weil das Urteil noch nicht rechtskräftig war. Kneese sagte, das Justizministerium müsse hier "Flagge zeigen".