Berlin (epd) Die Modernisierung der staatlichen Hilfen für behinderte Menschen gehört eigentlich zu den einvernehmlichen Vorhaben der großen Koalition. Nun aber fürchten Behindertenverbände, die Gesetzgebung könne sich verzögern. Die Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, Ulla Schmidt (SPD), warnte im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) vor einem Kuhhandel. Der Entwurf von Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) für ein Bundesteilhabegesetz könne zur Verhandlungsmasse werden im koalitionsinternen Streit um die Regulierung der Leiharbeit, fürchtet Schmidt und fordert: "Dieses Gesetz darf nicht zur Disposition gestellt werden."
Nicht in Gang gekommen
Nahles hatte kurz vor Ostern unionsinterne Auseinandersetzungen dafür verantwortlich gemacht, dass ihre Gesetzesvorhaben derzeit nicht vorankommen. Seit November vorigen Jahres liegt demnach der Entwurf für eine schärfere Regulierung der Leiharbeit im Kanzleramt, weil er der CSU zu weit geht. Auch die für März geplante Einleitung der Gesetzgebung zur Behindertenhilfe kam nun nicht in Gang.
Schmidt zufolge soll das Teilhabegesetz, das unter Einbeziehung der Behindertenverbände erarbeitet worden ist, zunächst am 13. April beim nächsten Koalitionsspitzen-Treffen debattiert werden. Die Reform der Eingliederungshilfe sei aber eigentlich unstrittig, sagt Schmidt. Sie werde von allen 16 Bundesländern befürwortet und gehe auf eindeutige Koalitionsvereinbarungen zurück. Die SPD-Politikerin vermutet die Gründe für die Verzögerung bei der CSU. "Von dort kommt bekanntlich der Widerstand gegen schärfere Regelungen bei der Leiharbeit und Werkverträgen", sagte sie dem Evangelischen Pressedienst (epd).
In den Eckpunkten für den Bundeshaushalt 2017 ist die Reform bereits mit zusätzlichen Ausgaben von voraussichtlich 160 Millionen Euro eingepreist. Im April sollten Fachanhörungen stattfinden. Vor der Sommerpause sollen sich Bundestag und Bundesrat erstmals mit dem Gesetz beschäftigen, das von 2017 an stufenweise in Kraft treten soll. Dieser Zeitplan sei nun gefährdet, sagte Schmidt.
Mehr Autonomie bekommen
Der Pressesprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Sebastian Hille, wies den Vorwurf zurück, die CSU wolle das Gesetz zur Verhandlungsmasse machen. Er sagte dem epd: "Wir wollen das Bundesteilhabegesetz." Inhaltlich gebe es nichts, was gegen das Gesetz spreche. Die CSU sehe, wie die übrigen Beteiligten auch, "dringenden Reformbedarf", sagte Hille.
Das neue Teilhabegesetz soll dafür sorgen, dass die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland schon seit mehr als sieben Jahren in Kraft ist, im Alltag behinderter Menschen Realität wird. Außerdem sieht es eine Reform der Eingliederungshilfe vor, die mehr als 700.000 behinderte Menschen in Deutschland erhalten. Sie sollen mehr Autonomie gewinnen bei der Wahl ihres Wohnortes, der Arbeit und im Alltag. Außerdem soll ihr finanzieller Spielraum wachsen. Bisher dürfen sie lediglich Ersparnisse von 2.600 Euro besitzen, wenn sie die Hilfen in Anspruch nehmen - auch dann, wenn sie berufstätig sind. Damit stehen sie schlechter da als Hartz-IV-Empfänger.
Schließlich warten die Kommunen auf die Reform. Sie sollen im Zuge des neuen Teilhabegesetzes um fünf Milliarden Euro entlastet werden. Die Ausgaben für die Eingliederungshilfe, die die Kommunen tragen, steigen seit Jahren und liegen derzeit bei rund 16,5 Milliarden Euro im Jahr.