Wadjda ist zehn Jahre alt und wandelt scheinbar problemlos zwischen den Welten. Innerhalb der eigenen vier Wände dominiert der Westen, draußen vor der Tür der Islam. Der Kontrast könnte kaum größer sein: Das Haus ihrer wohlhabenden Eltern verfügt über alle Errungenschaften des zivilisierten Zeitvertreibs, die schöne Mutter ist vergleichsweise freizügig gekleidet und singt nach Herzenslust. Geht sie nach draußen, ist sie bis auf einen Sehschlitz von Kopf bis Fuß verhüllt. In der Schule lernen die Mädchen, dass die Stimme das intimste Organ einer Frau sei, weshalb sie auf der Straße zu schweigen hätten.
Natürlich ist "Das Mädchen Wadjda" nicht der erste Film über die aus westlicher Sicht frappierenden Widersprüche in einem islamischen Land, aber selten wurden diese Eindrücke derart intensiv und aus erster Hand vermittelt: Die saudi-arabische Dokumentaristin Haifaa Al Mansour (Buch und Regie) wollte in ihrem Spielfilmdebüt die Welt beschreiben, in der sie aufgewachsen ist. Auch wenn sie als Kind offenbar weniger Restriktionen ausgesetzt war als Wadjda, dürfte das Mädchen dennoch ihr filmisches Alter ego sein: Fesseln spürt nur, wer sich bewegt, und Wadjda (Waad Mohammed) bewegt sich ziemlich viel. Sie ist ein aufmüpfiges Kind und nicht sonderlich religiös, weshalb sie sich in der Schule immer wieder unangenehme Monologe ihrer Rektorin anhören muss. Womöglich ist es Al Mansour, erste saudi-arabische Filmemacherin überhaupt, einst ebenso ergangen. Sie hat ihre Heimat verlassen, um an der amerikanischen Universität in Kairo Literatur und in Sydney Film zu studieren. "Das Mädchen Wadjda" ist der erste Film, der komplett in Saudi-Arabien realisiert worden ist. Heute gilt die Regisseurin als Sprachrohr ihrer Landsfrauen, die vielerorts nach wie vor nur Menschen zweiter Klasse sind.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Brisanz verbirgt sich hinter den Bildern
Wadjda, das vermittelt der Film ohne jeden Zweifel, wird in einigen Jahren einen ähnlichen Weg einschlagen wie Al Mansour. Ein einfaches Alltagssymbol genügt, um das rebellische Potenzial zu verdeutlichen: Sie wünscht sich nichts sehnlicher als ein Fahrrad und nimmt sogar am Koranwettbewerb ihrer Schule teil, weil der Siegerin ein erkleckliches Preisgeld winkt. Da sich "Das Mädchen Wadjda" auch an Kinder richtet, darf dieser Weg natürlich nicht zum Ziel führen, zumal die muslimische Frau selbstredend nicht Fahrrad fahren soll. Deshalb ist es auch nur vordergründig komisch, als Wadjda bei einer Probefahrt stürzt und die herbeieilende Mutter prompt um die Jungfräulichkeit des Kindes fürchtet.
Filmisch mag das zu großen Teilen mit deutschem Geld entstandene Drama konventionell sein, doch die Brisanz verbirgt sich hinter den Bildern. Die Kritik am oppressiven Charakter des Systems kommt zwar nur unterschwellig zum Ausdruck, ist aber dennoch deutlich. Sie funktioniert über die Unschuld des Mädchens, das hier und da Gerüchte aufschnappt und sich seinen Reim auf die gelebte Doppelmoral zum Beispiel der gottesfürchtigen Rektorin macht. Der überraschende Schluss legt zudem die Hoffnung nahe, dass auch die Generation der Mütter ihre Fesseln abwerfen will.