Hier laden keine Glocken zum Gottesdienst ein. Kein schallendes Geläut. Eher ein helles Gebimmel, als der Pianist ein Glöckchen zwischen Daumen und Zeigefinger schwingen lässt. Für 25 Christen, die sich in einem Saal eines Seniorenwohnheimes im Stuttgarter Westen versammelt haben, ist das das Zeichen: Jetzt feiern wir zu Ehre Gottes.
Die Symbolik lässt keine Zweifel. Nebenraum statt Kirche. Bimmel statt Glocken. Stadtteil statt Zentrum. Hier treffen sich Ausgegrenzte. Die Metropolitan Community Church, kurz MCC, sammelt jeden Samstagabend Gläubige, die anderswo nicht willkommen sind. Schon das Transparent am Eingang vermeidet jede Form der Wertung: "Gott ruft Große, Kleine, Dicke, Dünne, Rothaarige, Lesben, Schwule, Heteros…" Also alle.
"Der Tisch Gottes ist für jeden gedeckt"
Auch eine 85-jährige Bewohnerin des Ludwigstifts ist jeden Samstag dabei. Wie manch anderer Heimbewohner auch. Sie schätzen an den Gemeindegliedern der MCC deren besondere Herzlichkeit. "Ich fühle mich hier einfach angenommen", sagt die Stiftbewohnerin. Keiner frage sie, woher sie kommt, was sie denkt oder fühlt. Sie weiß: "Ich bin hier als Mensch willkommen. Hier darf ich sein, wie ich bin. Mir würde etwas fehlen, wenn ich nicht kommen könnte. Und es fehlt etwas, wenn ich nicht da bin."
Heike Schadeberg, im MCC-Vorstand, nickt zufrieden. Denn dieser Geist soll von der MCC-Gemeinde ausgehen. Tatsächlich übt die Gemeinde, die als Verein eingetragen ist, damit eine gewisse Anziehungskraft auf Heimatlose aus. Der Verein hat etwa 50 Mitglieder, rund 100 treue Menschen, die teilweise weit aus der Region Stuttgart zum Gottesdienst anreisen. "Ja, hier ist jeder willkommen, ob getauft oder nicht", sagt Schadeberg, "auch beim Abendmal gilt: Der Tisch Gottes ist für jeden gedeckt." Jeder soll den Pulsschlag des christlichen Lebens spüren. Selbst Muslime dürfen kommen.
Apropos Tisch Gottes. Bevor das erste Lied gesungen wird, bringen Lothar und Thomas einen Strauß Tulpen. "Ihnen ist ein schöner Altar wichtig", sagt Schadeberg anerkennend. Die Form, die Rituale und die Liturgie sind hier genauso wichtig wie bei jedem anderen Gottesdienst. Es wird auch mit gleicher Inbrunst gesungen - zum Lobpreis Gottes. Und nach dem die ersten Akkorde des Pianospielers, ein ehemaliger Pfarrer der württembergischen Landeskirche, verklingen, ertönt im Chor das übliche Eingangswort: "Wir feiern im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes."
Katholiken, Pietisten, Freikirchler und Suchende
Auch hier leuchtet das Licht des Schöpfers. Pardon, der Schöpferin. Die weibliche Form stößt hier allenfalls Neulingen auf. Allen anderen ist die Bezeichnung Schöpferin, die inklusive Sprache, bereits in Fleisch und Blut übergegangen. Gott als Mutter ist hier kein Gegensatz, sondern geglaubte Normalität. Ebenso wie der anschließende Friedensgruß. Nach dem Bekenntnis, dass der Friede Gottes größer sei als alle menschliche Vernunft, springen alle auf. Es bricht fast ein Wettbewerb aus: Wer herzt wen zuerst? Wer ruft wem zuerst "Der Friede sei mit dir" zu? Die alte englische Gentleman-Formel "Ladies first" ist von herzlichem Enthusiasmus außer Kraft gesetzt. Wenngleich die Geschlechterrollen ohnehin eine untergeordnete Rolle spielen.
Erst recht bei Isabell. Als sie sich vor zwei Jahren in ihrer freikirchlichen Gemeinde als transsexuell geoutet hatte, endet die Nächstenliebe jener Christen abrupt. Nicht bei allen, "aber manche redeten danach nicht mehr mit mir", sagt Isabell, "die meisten haben sich von mir zurückgezogen". Gemobbt wurde sie in der Baptisten-Gemeinde nicht. Doch andere MCCler erleben wegen ihrer sexuellen Identität oder Präferenz Anfeindungen. Selbst Familienangehörige Homosexueller sind oft betroffen: "Eine Mutter eines schwulen Gemeindeglieds wurde sogar aus dem Kirchenchor gedrängt", berichtet Isabell, die sich nun in der MCC-Gemeinde von Pfarrer Axel Schwaigert "als Mensch akzeptiert" fühlt.
Schwaigert selbst macht keinen Hehl aus seiner Homosexualität. Aber trägt sie auch nicht als Monstranz vor sich her. Genau genommen spielt es hier keine Rolle. Auch inhaltlich nicht. In keinem liturgischen Element wird klagend oder überkritisch auf die streng wertende Gesellschaft eingegangen. Es herrscht keine unterschwellige Frustration wegen der Intoleranz. Hier herrscht durchweg eine fröhlich-heitere Stimmung. Die frömmlerische Verbissenheit, die so manche pietistische Gemeinde in Württemberg auszeichnet, ist hier nicht zu finden. "Es mag daran liegen, dass die Leute aus allen Traditionen zu uns kommen", sagt Vorstandsmitglied Schadeberg. Katholiken, Pietisten, Freikirchler und Suchende. Dafür müssen sie sich alle gegenseitig aushalten und im Gottesdienst eine Schnittmenge finden.
Es ist eine Ökumene der besonderen Art. "Manchen ist es zu katholisch, wenn wir jedes mal Abendmahl feiern, den anderen sind wir zu evangelisch", sagt Axel Schwaigert, der zwar promovierter Theologe (Tübingen/Boston) ist, aber seine Brötchen als Bestatter verdient. Weiter sagt er: "Wir glauben an die Priesterschaft der Laien und aller Gläubigen." Darin liege das Faszinosum dieser "non-konformistischen Gemeinde", die eine Alternative ist, aber nicht Gegenpart sein will. Weder zur Landeskirche noch zu einer Freikirche.
"Bringt Licht in die Welt"
In vielen Elementen ist der Gottesdienst ohnehin kaum von "normalen" Gottesdiensten zu unterscheiden. Selbst die Taufen laufen hier so ab wie anderswo, ob bei Kindern oder Erwachsenen. "Eine Wiedertaufe ist allerdings nicht nötig", sagt Pfarrer Schwaigert, "und ich lass mir von keinem einen Bestätigungszettel zeigen, ob er auch wirklich getauft ist." All das passt nicht zum Gottes- und Bibelverständnis der MCC: "Mein Verständnis ist, dass Gott uns alle segnet und das Wort sich im Leben widerspiegelt."
Die Predigt hält an diesem Samstag Pfarrer Schwaigert selbst. Er ist das Zentrum der Gemeinde, aber er steht nicht permanent im Mittelpunkt. Bei der MCC ist er so etwas wie der Primus inter pares, der Erste unter Gleichen. Daher würde er wohl auch nur ungern von einer Kanzel herab predigen, selbst wenn er eine hätte. Statt sich zu erhöhen, will er auch an diesem Abend den Gläubigen ganz nah sein. Sein Thema ist die Gottesbegegnung. Axel Schwaigert spricht von dem "inneren Leuchten", das beispielsweise von Mose ausgegangen war. Von diesen Momenten, in denen sich Himmel und Erde ganz nah sind und Gott selbst durchscheint.
Solche Momente wünscht er sich für seine Zuhörer. "Wenn ihr nachher rausgeht", ruft er ihnen zu, "dann soll in jedem von euch dieses Strahlen der Gottesbegegnung sein." So sollen die MCC-Mitglieder in eine Welt treten, die sie nicht vorbehaltlos annimmt. "Ihr sollt Menschen einladen und sie verändern", wünscht sich Schwaigert, "gerade da, wo jemand anders glaubt, als es die Organisation gerne hätte." In diesem Moment wird Pfarrer Schwaigert leise. Er flüstert beinahe: "Bringt Licht in die Welt." Gleichsam des Namens der Stuttgarter MCC-Gemeinde "Salz der Erde" sollen sie wirken. Seine Gemeinde nimmt die Aufforderung an, die an die Botschaft Jesu erinnert: In diesem Sinn verlassen die MCCler am Ende des Gottesdienstes den Raum. Mit einer Botschaft und einem Leuchten. Dem eines kleinen Teelichtes und dem in ihrem Gesicht.