Detmold (epd)Mit der Befragung eines Auschwitz-Überlebenden hat der Gerichtsprozess gegen einen früheren SS-Mann begonnen. Dem 94-jährigen Angeklagten aus dem lippischen Lage wirft die Staatsanwaltschaft Beihilfe zum Mord im NS-Vernichtungslager Auschwitz in mindestens 170.000 Fällen vor. Insgesamt sind bis zum 20. Mai zwölf Verhandlungstermine angesetzt.
Der 94-jährige Zeuge Leon Schwarzbaum richtete an den gleichaltrigen Angeklagten den eindringlichen Appell: "Wir beide stehen bald vor dem höchsten Richter." Deshalb bitte er den Angeklagten, zu erzählen, "was Sie getan und erlebt haben". Der in Hamburg geborene und im oberschlesischen Bendzin aufgewachsene Schwarzbaum war seinem Bericht zufolge als 22-Jähriger nach Auschwitz deportiert worden. Seine Eltern und sein Onkel wurden dort von den Nationalsozialisten ermordet.
In dem Verfahren treten rund 40 Holocaust-Überlebende und deren Nachfahren aus dem In- und Ausland als Nebenkläger auf. Wegen des großen Interesses war die Verhandlung des Landgerichts Detmold in den Saal der Industrie- und Handelskammer Lippe verlegt worden.
Der Angeklagte schweigt
Der frühere SS-Mann, der sich am ersten Verhandlungstag nicht äußerte und oft auf den Boden starrte, soll im Januar 1942 in das Konzentrationslager im damals deutsch besetzten Polen versetzt und unter anderem für die Bewachung des sogenannten Stammlagers Auschwitz I zuständig gewesen sein. Als Angehöriger der Wachmannschaft soll er an der Tötung von mindestens 170.000 Menschen in der Zeit von Januar 1943 bis Juni 1944 beteiligt gewesen sein.
Der Rentner hat den Angaben der Staatsanwaltschaft zufolge zwar eingeräumt, in Auschwitz eingesetzt gewesen zu sein. Er bestreitet jedoch eine Beteiligung an den Morden.
Zum Prozessbeginn hatte eine bereits mehrfach verurteilte Holocaustleugnerin, die 87-jährige Ursula Haverbeck aus Vlotho, versucht, in die Verhandlung zu gelangen. Nachdem sie von anderen Wartenden erkannt worden sei, sei es zu Schubsern und Stößen gekommen, sagte ein Polizeisprecher dem WDR. Beamte seien daraufhin dazwischen gegangen. Haverbeck habe den Ort mit einem Auto verlassen. Der Prozessauftakt wurde dadurch nicht beeinträchtigt.
Richterin: "Es geht hier nicht um Politik"
Die Richterin Anke Grudda betonte zum Prozessauftakt, dass es im Prozess nicht um Politik gehe, sondern um die Feststellung der persönlichen Schuld des Angeklagten. Das Verfahren sollte am Freitag fortgesetzt werden. Wegen des Gesundheitszustandes des betagten Angeklagten ist die Verhandlungsdauer auf zwei Stunden pro Prozesstag festgesetzt worden.
Die Verteidigung kritisierte, dass der Angeklagte durch einen unangekündigten Besuch der Polizei in seiner Wohnung überrascht worden sei. Die Rechtsbelehrung habe er so nicht vollständig verstehen können. Nach dem Willen der Verteidigung sollen die Aussagen dieses Verhöres daher nicht verwendet werden. Das Gericht wollte dazu zu einem späteren Zeitpunkt Stellung nehmen.
Im vergangenen Juli war der frühere SS-Mann Oskar Gröning vom Lüneburger Landgericht wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen im KZ Auschwitz-Birkenau zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. Seine Verteidiger und die Anwälte der Nebenkläger beantragten daraufhin eine Revision vor dem Bundesgerichtshof (BGH). In Hanau, Neubrandenburg und Kiel laufen weitere ähnliche Prozesse oder befinden sich in Vorbereitung.