Berlin, Hannover (epd)Sicher ist eigentlich nur, dass sie weg sind: Am 1. Januar galten laut Bundeskriminalamt (BKA) exakt 4.749 Flüchtlingskinder und Jugendliche in Deutschland als vermisst. Sie haben sich in den vergangenen Wochen oder Monaten registrieren lassen, wurden von den Behörden in Heimen untergebracht - und verschwanden dann. Was mit ihnen geschehen ist, weiß offenbar keiner so genau.
Sind sie ausgerissen? Hat man falsch gezählt? Hat die Bürokratie versagt? Oder aber sind die Jugendlichen Menschenhändlern in die Hände gefallen und Opfer von Verbrechen geworden, wie es etwa Kinderschutzbund-Präsident Heinz Hilgers befürchtet? Fast 5.000 verschwundene Kinder, die Zahl ist so hoch, dass man sie kaum glauben mag. Aber ist sie tatsächlich gleichbedeutend mit 5.000 Verbrechen?
"Zahlen relativieren"
Höchstwahrscheinlich nein, findet Tobias Klaus vom Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Berlin. Er schildert einen fiktiven Fall, der verdeutlichen soll, wie ein Kind für die Behörden verschwindet: "Ein Jugendlicher wird in eine Unterkunft in Thüringen gebracht, will aber weiter nach Dortmund, wo er einen Onkel hat. Also macht er sich heimlich auf den Weg - und das örtliche Jugendamt meldet ihn als vermisst. In Dortmund angekommen, sagt der Junge aber niemandem, dass er schon in Thüringen war, denn er hat Angst, dorthin zurück zu müssen."
Natürlich gibt es nach Angaben des Sprechers Einzelfälle, in denen Kinder und Jugendliche wirklich in die Hände von Kriminellen gerieten, aber das seien absolute Ausnahmefälle. Einen anderen Weg zu seinem Onkel als den illegalen habe der Jugendliche im skizzierten Fall eben nicht gehabt: "Deswegen muss man solche Zahlen relativieren."
Die Zustände könnten sich jedoch durchaus verschlimmern, befürchtet Björn Hagen, Geschäftsführer des Evangelischen Erziehungsverbandes in Hannover, in dessen Einrichtungen auch Flüchtlingskinder betreut werden. Er denkt dabei an Schlepper, die eine große Gefahr für diese Kinder und Jugendlichen darstellen "und die in der Lage sind, das gegenwärtige System auszunutzen."
Geborgenheit und eine Zukunftsperspektive
"Kinder und Jugendliche auf der Flucht haben bereits Vertreibung, Gewalt, oft Tod erlebt. Sie sind anfällig für alle möglichen Versprechungen und so leichte Beute für Täter und Täterinnen, die diese Kinder ausbeuten wollen", sagt Julia von Weiler von der Kinderschutzorganisation "Innocence in Danger" in Berlin. Dabei gebe es durchaus Wege, die jungen Menschen in ihren Unterkünften zu halten, findet Björn Hagen: "Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Kinder und Jugendlichen gar nicht erst auf den Weg machen. Das schaffen wir, indem wir ihnen Geborgenheit geben und eine Zukunftsperspektive."
Für Tobias Klaus gehört aber ebenso dazu, dass man jungen Flüchtlingen, die woanders leben wollen, diesen Weg auch ermöglicht. Ein Schritt in die falsche Richtung ist seiner Ansicht nach die jüngst beschlossene Verschärfung des Asylrechts, nach der Flüchtlinge während ihres Asylverfahrens den zuständigen Bezirk nicht verlassen dürfen. "Da sind eindeutig die Interessen der Jugendlichen, die an einem bestimmten Ort leben wollen, nicht berücksichtigt worden."
Intensität der Beziehungen wichtig
Er fordert deshalb, die Zusammenführung mit Angehörigen zu erleichtern. "Wichtig ist dabei auch die Intensität der Beziehungen. Wenn ich als Jugendlicher weiß, dass ein alter Freund der Familie in Bremen lebt, dann will ich auch dorthin." Diese Empathie für das Denken und Verhalten der Jugendlichen fehle jedoch in der Gesetzgebung vollständig.
Werde dem nicht Rechnung getragen, dann könnte sich die Zahl der verschwundenen jungen Flüchtlinge in der Zukunft noch erhöhen, befürchtet Klaus. Dafür spreche die Beobachtung der Hilfsorganisation Unicef, wonach zum ersten Mal mehr Frauen und Kinder auf Booten aus der Türkei nach Griechenland aufbrechen als Männer. Allein Kinder kämen hier schon auf einen Anteil von 36 Prozent.