70 Prozent der im letzten Jahr in Deutschland angekommenen Flüchtlinge sind männlich. Viele Menschen bei uns verbinden damit die Befürchtung eines kulturellen Rückfalles in patriarchale Verhältnisse. Nun wäre es naiv anzunehmen, dass es der ekelhaften Exzesse aus der Silvesternacht bedurft hätte, um zu verstehen, dass viele Männer aus den weltweiten Krisengebieten tatsächlich eine andere Einstellung zu Geschlechterrollen, der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung von Frauen und Männern mitbringen, als die, die bei uns selbstverständlich und vom Grundgesetz geschützt sind. Die Bilder der von der männlichen Menge gehetzten und misshandelten ägyptischen Frauen auf dem Tahrir-Platz, die Gruppenvergewaltigungen an öffentlichen Orten in Indien oder das Leiden der Mädchen in den Händen der Boko Haram in Nigeria konnten wir alle sehen – aber haben sie uns auch nur annähernd so erregt, wie die Bilder vom Kölner Hauptbahnhof?
Eines jedoch sollte ebenso klar sein: Die Deutungsmacht über die gesellschaftlich zu ziehenden Konsequenzen – jenseits von selbstverständlicher Strafverfolgung oder möglicher Ausweisung der Täter und jenseits des Mitgefühls für die Frauen, die Opfer des Mobs geworden sind – dürfen wir nicht den rechten Brandstiftern von AfD oder Pegida und erst recht nicht den bekennenden Nazis mit ihren Schlägertruppen überlassen. Wenn wir mit unseren Grundwerten von Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellung erfolgreich sein wollen gegen den globalen "Machismo", von dem auch viele Migranten und Flüchtlinge bei uns beseelt sind, dann geht es nur über einen nachhaltigen Prozess der dialogischen Aufklärung und Bildung.
Aber genau hier liegt ein immenses Defizit in den akuten wie in den integrativen dauerhaften Beratungen und Unterstützungen von Flüchtlingen und Migranten verborgen: Die Beratung konzentriert sich auf so genannte praktische Fragen. Über Frauen- oder Männerbilder, über Sexualität und Selbstbestimmungsrecht oder das Verhältnis zu Autoritäten, vor allem zu weiblichen Autoritätspersonen, wird nicht geredet, es fehlt ein gender-reflektiertes Konzept der Flüchtlingspolitik. Ein solches Konzept wird die sogenannte Flüchtlingsfrage auch als eine "Männerfrage" betrachten, die Gruppe der Männer in ihrer Vielfalt und ihren unterschiedlichen Bedarfslagen angemessen wahrnehmen und Angebote zur Integration entsprechend gender-reflektiert ausgestalten.
Der Einbeziehung von Erfahrungen der Männer kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu. Konzepte der Belehrung und der "Umerziehung"“ sind nach allen Erfahrungen wenig zielführend. Es geht um die vermittelnde gemeinsame Erarbeitung einer trag- und zukunftsfähigen geschlechterdemokratischen Wertebasis. Die Entwicklung eines solchen Konzeptes, seine Vermittlung an die Multiplikatoren in der Flüchtlings- und Migrationsarbeit sowie die Auflegung von Projekten zur konkreten Arbeit mit den Flüchtlingsmännern ist dringend geboten und zwar sofort!
"Der überwiegende Teil dieser Männer flieht vor tödlicher Gewalt"
Die Männerarbeit der Evangelischen Kirche in Deutschland hat in diesem Sinne bereits positive Erfahrungen mit Männergruppen, -Gesprächsrunden und -Cafés in Erstaufnahmeeinrichtungen und anderen Flüchtlingsunterkünften sammeln können. Das Bundesforum Männer, der Dachverband von über 30 bundesweit aktiven Organisationen der Männer-, Jungen und Väterarbeit in Deutschland, plant zudem ein dreijähriges Projekt zur genderreflektierten Arbeit mit männlichen Flüchtlingen. Das Projekt wird unter einer gender-reflektierten Perspektive auf Männer Formate und Methoden für die praktische, politische, sozialpädagogische und erwachsenenbildnerische Arbeit vor Ort entwickeln. Dies wird in Zusammenarbeit mit geflüchteten Männern selbst sowie mit den im Themenfeld tätigen Organisationen geschehen.
Bei aller berechtigten Empörung über die Ereignisse zum Jahreswechsel und über sonstiges Fehlverhalten Einzelner sollte nicht vergessen werden, dass sich auch hinter dem Schicksal eines Mannes, der zu uns kommt, eine traumatische Fluchterfahrung verbirgt. Der überwiegende Teil dieser Männer flieht vor tödlicher Gewalt, der Zerstörung ihrer wirtschaftlichen Existenz und dem Verlust von Lebensperspektiven. Für viele Familien sind gerade die jungen Männer die letzten Hoffnungsanker für ein Leben in Sicherheit. Deswegen werden sie ausgewählt, um die Gefahren der Flucht auf sich zu nehmen und eine neue Existenzgrundlage für die Zurückgebliebenen zu erkämpfen. Erst wenn sie hier bei uns von Beginn an erfahren, dass wir uns für sie interessieren, dass auch wir Erwartungen an sie haben und dazu mit ihnen gemeinsam nach Wegen zur Teilhabe an Erwerbsarbeit und Gesellschaft suchen, können sie Entwicklungspotential aktivieren und Bereitschaft zum aktiven Mitwirken aufbringen. Nur so kann Integration gelingen.