"Wenn wir uns als Selbstbespaßungs-Verein sehen, haben wir was verpasst"

Pastor Gottfried Martens hält den Gottesdienst in der Evangelisch-Lutherischen Dreieinigkeitskirche in Berlin-Steglitz.
Foto: dpa/Lukas Schulze
Pastor Gottfried Martens bei einem Gottesdienst.
"Wenn wir uns als Selbstbespaßungs-Verein sehen, haben wir was verpasst"
Wie eine Kirchengemeinde in Berlin hunderte Iraner aufnahm
Manchmal dauert der Gottesdienst in der selbständig-lutherischen Dreieinigkeitsgemeinde in Berlin-Steglitz drei Stunden. Denn alle wollen am Abendmahl teilnehmen – und das sind mehrere hundert Menschen. Die meisten von ihnen stammen aus dem Iran: Sie flohen von dort, wurden Christen und fanden bei Pfarrer Gottfried Martens Aufnahme.

Eben noch stand Pfarrer Gottfried Martens auf der Kanzel. Mit dröhnender Stimme predigte er von der grenzenlosen Barmherzigkeit Jesu Christi. Jetzt verneigt er sich vor dem Altar, die Gemeinde hat er im Rücken. Dort drängen sich gut 300 Menschen in den schlichten Holzbänken – und zeichnen ein für deutsche Kirchengemeinden höchst ungewöhnliches Bild: Viele der Gottesdienstbesucher sind noch keine 30, haben dunkle Augen, tiefschwarze Haare. Nur ganz vereinzelt blitzt ein grauer Haarschopf auf. Pfarrer Martens hebt an zum Vater Unser, die Gemeinde murmelt mit. Alle, auch der Pfarrer, sprechen das Gebet auf Farsi, der Sprache der Perser. Denn fast drei Viertel der gut 900 Mitglieder der Dreieinigkeitsgemeinde im Berliner Stadtteil Steglitz stammen aus dem Iran und Afghanistan. Die meisten von ihnen sind Asylbewerber und waren bisher Muslime. In Steglitz wurden sie zu Christen.

Martens Gemeinde, die zur Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) gehört, ist ein Spezialfall. "2005 hatten wir hier vielleicht noch zehn Leute im Gottesdienst, alle jenseits der 70", erzählt der 52-Jährige. Daher folgte Anfang 2006 der Anschluss an die St. Mariengemeinde im benachbarten Stadtteil Zehlendorf. Fortan war die Steglitzer Dreieinigkeitskirche "mehr so ein Predigtort von Zehlendorf", erinnert sich der Pfarrer. Ein Gottesdienst samstagabends, alle 14 Tage eine Bibelstunde, ab und an eine Veranstaltung der syrisch-orthodoxen Gemeinde – das war’s. "Wir wollten das Ding abreißen", sagt Martens über den schmucklosen Nachkriegsbau mit seinen zwei Etagen: im Erdgeschoss der Gemeindesaal, im Stockwerk darüber der ausladende Kirchraum.

2008 standen plötzlich zwei Iraner vor der Tür und baten um die Taufe. Martens erfüllte ihnen ihren Wunsch. "2012 setzte dann eine Art Schneeballeffekt ein." Und seitdem wächst die Gemeinde stetig, ja wächst allmählich über ihre Kapazitäten hinaus. Aus ganz Berlin und Brandenburg kommen Flüchtlinge aus Iran und Afghanistan nach Steglitz, vereinzelt auch aus Syrien, aus dem Irak. Sie kommen, um Christen zu werden.

Bald wurde die vereinigte Mariengemeinde wieder zu groß. So zog Martens Ende 2013 mit Hunderten Iranern und Afghanen sowie 250 Einheimischen zurück nach Steglitz. Ende 2015 hatte die Gemeinde gut 900 Mitglieder, fast alle der knapp 600 Iraner und rund 100 Afghanen hat Martens selbst getauft. Kurz vor Weihnachten 2015 standen fast 300 weitere Bewerber auf seiner Liste, was dem Pfarrer selbst "langsam etwas surreal" vorkommt.

Geheime christliche Hausgemeinden im Iran

Die Ankunft mit den Konvertiten im gutsituierten Steglitz war nicht einfach. Martens erhielt E-Mails von erbosten Nachbarn: Man sei eine gehobene Wohngegend, man wolle hier keine Ausländer sehen. "Die haben uns eine Behörde nach der anderen auf den Hals gehetzt", sagt der Pfarrer. Natürlich gebe es auch Anwohner, die sich für die anderen entschuldigten. "Aber wir achten trotzdem sehr darauf, uns hier nichts zu Schulden kommen zu lassen. Ansonsten rufen die sofort die Polizei." 

Das war 2014. Inzwischen hat sich die Nachbarschaft offenbar daran gewöhnt, dass mindestens sonntags hunderte zumeist junge Leute in der Kirche zusammenkommen. Nach dem Gottesdienst versammeln sie sich im Erdgeschoss zum gemeinsamen Mittagessen. Der Duft der persischen Speisen – Fleisch, Kartoffeln, würziger Salat – dringt schon in den Kirchsaal im Obergeschoss, als dort noch Abendmahl gefeiert wird. Das Mittagessen wirkt dann wie ein großes, harmonisches Familientreffen. Persische, arabische, afghanische Familien, viele mit Kindern, sitzen neben angegrauten Einheimischen, es wird geredet, gegessen, gelacht – ein Stück Normalität für die Flüchtlinge.

Manch einer hat auf der riskanten Flucht Angehörige verloren, andere bangen um Freunde und Familienmitglieder, die noch unterwegs sind. Die Iraner, die aus der Islamischen Republik geflohen und nun in Steglitz heimisch geworden sind, haben ihr Land in der Regel aus Glaubensgründen verlassen. "Im Iran gibt es zurzeit – gerade in der gebildeten Mittel- und Oberschicht – eine große Abneigung gegen den Islam", sagt Martens. Oft hatten die Konvertiten schon in ihrem Heimatland Kontakt zu geheimen christlichen Hausgemeinden.

Amir aus Isfahan zum Beispiel. Er war 19, als er mit der Bibel in Kontakt kam – und ins Nachdenken. "Warum habe ich über 20 Jahre nicht bemerkt, dass der Koran es erlaubt, Andersgläubige zu töten?", fragte er sich bald und kam zu dem Schluss: "Der Islam ist keine friedliche Religion!" So schloss er sich einer Hausgemeinde an – und flog schnell auf. Als erstes musste er den Sportverein verlassen, dann die Universität. Zuletzt setzte ihn sein Vater vor die Tür und sagte zum Abschied: "Du hast keine Familie mehr. Geh’ zu Jesus Christus." Amir blieb nur die Flucht.

Nach dem Essen steht Martens auf und kündigt die Termine der kommenden Woche an: Taufunterricht, Bibelstunde, Konfirmandenunterricht, ein Ausflug ins Museum. Er spricht auf Deutsch, ein junger Perser übersetzt. Auch wenn Martens inzwischen ganz gut Farsi versteht – es selbst zu sprechen, traut er sich noch nicht zu. Beinahe alle Gemeindeveranstaltungen hält der Pfarrer selbst – immer mit Dolmetscher. "Ich versuche zwar, die Dinge zu delegieren und zu dezentralisieren; aber das klappt wirklich nur sehr zum Teil", sagt er und klingt ein wenig klagend. Viele der früheren Muslime hingen einem ausgeprägten Hierarchiedenken an und beharrten darauf, sich nur vom Pastor etwas sagen zu lassen – "obwohl ich immer wieder deutlich mache, dass ich das nicht für gut halte und dass das für mich auch schlicht nicht zu leisten ist."

Denn die Aufgaben in Berlin-Steglitz sind andere, größere, als in anderen Gemeinden. Fragen zum Aufenthaltsrecht, Ärger mit konservativen Muslimen in den Asylbewerberheimen, Deutschunterricht, Kirchenasyl, drohende Abschiebungen, Fragen zum Familiennachzug, dazu der Umgang mit Traumata – oft kommt Martens nicht vor drei Uhr morgens ins Bett. Die dicken, dunklen Schatten unter seinen Augen zeugen davon. Wie er das schafft? Martens wird nachdenklich, überlegt und sagt dann leise: "Diese Frage stelle ich mir selbst seit 20 Jahren, immer wieder. Aber bisher geht alles gut." Dann, mit fester, entschlossener Stimme: "Das hier ist eine Arbeit, bei der man selbst so viel zurückbekommt. Es ist einfach so schön und eine ganz, ganz große Freude, diese Menschen zu erleben und mit ihnen arbeiten zu dürfen." Nicht zuletzt bestärke ihn, wie ernst die Konvertiten den christlichen Glauben nähmen: "Das wirkt auch für mich selbst immer wieder glaubensstärkend."   

Wer getauft werden will, muss Fragen beantworten

Rund ein Dutzend Ehrenamtler unterstützen den Pfarrer, geben Deutschunterricht und versorgen die Flüchtlinge im Kirchenasyl, das die Gemeinde seit rund eineinhalb Jahren stets etwa einem Dutzend Flüchtlingen gewährt hat. Mehrfach sah sich die Gemeinde dem Vorwurf ausgesetzt, die vielen Konvertiten kämen nur wegen des Kirchenasyls nach Steglitz und interessierten sich gar nicht für das Christentum. Doch Martens nimmt nicht jeden in die Gemeinde auf. "Wir haben die Latte bewusst hoch gelegt", betont er. Wer getauft werden will, muss jede Woche in Taufunterricht und Gottesdienst erscheinen. Am Ende des Unterrichts gibt es eine Prüfung, bei der eine der ersten Fragen lautet, warum ein Bewerber Christ werden will. "Und wenn die Leute darauf eigentlich keine Antwort geben können, dann, sage ich, kann ich dich auch nicht taufen", erklärt der Pfarrer. Das betreffe etwa jeden Fünften.

Grundsätzlich werde jedoch erst einmal niemand abgewiesen, "auch wenn wir uns natürlich selbst fragen, wann eigentlich die Schmerzgrenze erreicht ist." Durch die vielen Taufen und das Abendmahl, an dem beinahe alle der oft mehreren hundert Gottesdienstbesucher teilnehmen, dauert der Sonntagsgottesdienst manchmal drei Stunden. Andere Gemeinden, sagt Martens, könne er nur dazu ermutigen, Flüchtlinge in die Kirche zu integrieren. "Speziell von den verfolgten Christen können wir etwas über die Ernsthaftigkeit des Glaubens lernen. Es ist sehr ermutigend, diese Freude über das Evangelium zu erleben", sagt er. Allerdings müssten sich Gemeinden, die Flüchtlinge aufnehmen, auch bewusst sein, dass sich durch diesen Schritt "gewaltig etwas verändern" wird. Wer immer so bleiben wolle, wie er sei, solle lieber die Finger weglassen, warnt Martens. Doch "wenn wir uns immer nur als Selbstbespaßungs-Verein ansehen, dann haben wir etwas ganz, ganz Entscheidendes verpasst", betont der Pfarrer. "Oder, mit Bonhoeffer gesprochen: Kirche ist Kirche für andere."

 

Eine Langfassung dieses Beitrags erscheint im März 2016 als Teil der Anthologie "Warum wir das schaffen müssen!" im Brendow Verlag (ISBN/EAN: 9783865068507, Autoren/Herausgeber: Corinna Meinold, Anja Lerz (Hrsg.), 144 Seiten).