Die Autoren des Alten Testamentes stellten sich den Menschen als ein Ganzes vor, das aus vielen Teilen zusammengesetzt ist. Einzelne Körper-Begriffe stehen dabei immer für den ganzen Menschen, jeweils unter einem bestimmten Aspekt. Das Wort "näfäsch" zum Beispiel, meist unzureichend mit "Seele" übersetzt, meint den Menschen in seiner Bedürftigkeit: Der Begriff heißt auch "Kehle" - der Körperteil, durch den alles hindurch muss, was wir zum Leben brauchen, Wasser, Speise und Luft. Der Mensch ist eine näfäsch mit Bedürfnissen und Sehnsüchten. Wenn vom "Ohr" die Rede ist, ist häufig das Verstehen gemeint, "Auge" meint "Erkennen" und der "Fuß" steht für "Kraft".
Denn das Herz ist auch Sitz der Vernunft, die wir heute dem Gehirn zuordnen. Im Bericht über das Lebensende von Nabal (1. Samuel 25,37-38) würde es sogar passen, im Deutschen "Gehirn" statt "Herz" zu schreiben. In der Erzählung heißt es: "Da erstarb sein Herz in seinem Innern, und er wurde wie ein Stein. Und es geschah nach zehn Tagen, da schlug der Herr den Nabal, dass er starb." Erst starb sein Herz, und danach lebte er noch zehn Tage lang weiter? Das ist medizinisch unmöglich. Wahrscheinlich sind bei Nabal Gehirnfunktionen ausgefallen, wir würden dazu vielleicht "Schlaganfall" oder "Hirnblutung" sagen. Doch das hebräische "leb" immer mit "Gehirn" zu übersetzen, wäre auch nicht richtig.
König Salomos Bitte um ein weises Herz
Das Herz ist in der hebräischen Bibel ein wahrnehmendes Organ, es sei "zum Verstehen bestimmt", schreibt Hans Walter Wolff in seinem Buch "Anthropologie des Alten Testaments" (Gütersloh 2002, 7. Auflage). Dieses Verstehen ist nicht unbedingt Ergebnis intensiver Studien, sondern es entspringt der Beziehung des Menschen zu Gott. König Salomo ist dafür das beste Beispiel: Auf Gottes Frage nach seinem Wunsch antwortet er: "So gib du deinem Knecht doch ein verständiges Herz, dass er dein Volk zu richten versteht und unterscheiden kann, was gut und böse ist." (1. Könige 3,9). Die legendäre Weisheit des Salomo ist also eine Qualifikation, die er nicht aus sich selbst heraus besitzt, sondern von Gott erbittet und bekommt. Von Salomo können wir lernen, eine Haltung des Hörens und der Zuwendung einzunehmen: Mit Gott im Gespräch bleiben, beten, innehalten, hinhören. In der Beziehung zu Gott ist der Mensch in erster Linie Empfangender.
Die andere Richtung der Beziehung zwischen Mensch und Gott ist die Hingabe: Das Herz wird offen zum Lieben. Im höchsten Gebot (Deuteronomium 6, 5-6) heißt es: "Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen (= "leb"), von ganzer Seele (= "näfäsch") und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen (= dir bewusst machen, darüber nachdenken, dich daran erinnern)." Mit "lieb haben" ist hier nicht Liebe im Sinne von großen Gefühlswallungen gemeint, sondern eine bewusste Hingabe des ganzen Menschen zu Gott hin.
"Das andere aber ist dem gleich: 'Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst'", ergänzt Jesus das Gebot (Matthäus 22,39). So bleibt es nicht beim Empfangen und Geben zwischen dem Einzelnen und Gott, sondern die Beziehung hat Auswirkungen auf andere Menschen, auf das soziale Umfeld. Aus dem Hören heraus kann das Herz gefüllt und genährt – also "groß" – werden. So mit der Kraft des Höchsten versorgt, sollte es den Fastenden während der Aktion "7 Wochen Ohne" umso leichter fallen, ihr prall gefülltes Herz zu öffnen – und es gewissermaßen wieder auszuschütten in Form von Mitgefühl, Nachsicht und Weite gegenüber den Mitmenschen.
Teile dieses Artikels erschienen bereits im März 2014 bei evangelisch.de unter dem Titel "Mit dem Herzen denken".