Der Autor und Regisseur Friedemann Fromm zählt schon seit geraumer Zeit zu den wichtigsten Geschichtenerzählern des deutschen Fernsehens. Unter vielen großen Werken ragten zwei noch heraus: Der Mehrteiler "Die Wölfe" (ZDF) und die Serie "Weissensee" (ARD) sind vielfach ausgezeichnet worden, und es sicher kein Zufall, dass Fromm jeweils die nötige Zeit hatte, um seine Figuren zu entwickeln. Beide Produktionen handeln von Dramen, in denen ganz gewöhnliche Menschen in Grenzbereiche und dort unter einen extremen Druck geraten. Dieses Muster zieht sich durch nahezu alle Filme Fromms: Er konfrontiert seine Figuren mit Momenten, in denen keine Ausflüchte und keine Maskeraden mehr möglich sind. Die Heldin seiner Serie "Die Stadt und die Macht" erfüllt diese Voraussetzungen geradezu perfekt: Susanne Kröhmer (Anna Loos), Mitglied einer konservativen Partei, erklärt sich spontan dazu bereit, gegen den langjährigen Regierenden Bürgermeister von Berlin anzutreten. Obwohl ihr Vater (Thomas Thieme) seit Jahren Strippenzieher der Partei ist und sie den politischen Betrieb eigentlich zu kennen glaubt, muss sie feststellen, dass die Luft auf dem Weg nach oben immer dünner wird. Außerdem stellt sich raus, dass dem alten Kröhmer kein Schachzug zu niederträchtig ist, um den Status quo einer großen Koalition zu erhalten, zumal er mit dem aktuellen Amtsinhaber (Burghart Klaußner) buchstäblich eine gemeinsame Leiche im Keller hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Ein weiteres Merkmal der Arbeiten Fromms ist seine Fähigkeit, das Publikum mitzunehmen. Natürlich geht es in der sechsteiligen Miniserie vor allem um Politik, ein Sujet, vor dem die Sender gehörigen Respekt haben, weil vor Jahren die Serie "Das Kanzleramt" dem ZDF eine beinahe traumatisches Quotenerlebnis beschert hat. Tatsächlich fehlt ein wichtiges Element im Titel: Berlin ist der Schauplatz, und nach der Macht streben alle Beteiligten; doch der entscheidende Aspekt ist die Familie. Immer wieder eingestreute Rückblendenfetzen deuten an, dass Susannes Vater in ihrer Kindheit in ein Ereignis mit traumatischen Folgen verwickelt. Die Partei schildert Fromm ebenfalls als familienähnliche Gemeinschaft, in der allerdings Eifersucht und Missgunst dominieren und nach Herzenslust intrigiert wird. Vor allem jedoch inszeniert er seine Heldin als Identifikationsfigur. Susanne Kröhmer engagiert sich als Rechtsanwältin für die Resozialisierung straffällig gewordener Jugendlicher, ist also trotz des vom Vater vererbten Stallgeruchs quasi eine Quereinsteigerin, die frischen Wind in den verfilzten Berliner Klüngel bringen will. Ihr Wahlkampfmanager (Martin Brambach) macht ihr jedoch schnell klar, dass man mit Idealismus allein keine Wahlen gewinnt.
Gespielt ist das ausnahmslos famos, zumal Fromm selbst für kleinste Sprechrollen namhafte Schauspieler gewinnen konnte. Gerade Anna Loos ist jederzeit glaubwürdig, und weil das nach einer Idee von Martin Rauhaus entstandene ungemein komplexe Drehbuch (Annette Simon, Fromms Bruder Christoph und Martin Behnke) ständig mit neuen Verwicklungen aufwartet und die Heldin auch privat mit diversen Ausnahmesituationen konfrontiert, muss sie mehrmals quasi vor laufender Kamera um Jahre altern: Kaum hat sie ihre Kandidatur erklärt, stellt sie fest, dass sie schwanger ist. Dann wird ihr ein Foto zugespielt, das ihren Lebensgefährten (Stephan Kampwirth) mit einer anderen zeigt, woraufhin sie sich von ihm trennt; später wird sie das Baby verlieren. Außerdem muss sie den Freitod ihres besten Freundes verkraften. Zu allem Überfluss ist ein weiterer Freund, der Journalist Alex (Carlo Ljubek), einem Skandal auf der Spur, der am Ende dazu führt wird , dass ihr Vater von seinem Sockel stürzt.
Der alte Kröhmer ist ohnehin die heimliche Hauptfigur der Geschichte, denn ganz egal, ob der Weg seiner Tochter nach oben oder nach unten führt: Sie muss auf jeden Fall an ihm vorbei; und der Schauspielgigant Thomas Thieme ist selbstredend die beste denkbare Besetzung für diesen Übervater, den seine Frau (Renate Krößner) mal als "Gott des Gemetzels" bezeichnet. Es gibt allerdings neben Loos ein weiteres Ensemblemitglied, mit dem sich Thieme die Meriten teilen muss: Martin Brambach verkörpert den mit allen Abwassern gewaschenen mephistophelischen Manipulator, der skrupellos sämtliche Details aus Susannes Privatleben für den Wahlkampf verwurstet, mit einer hinreißenden Hingabe; der Dialekt, mit dem er den Mann versieht, ist allerdings ebenso zweifelhaft wie sein Kleidungsgeschmack. Die ARD zeigt diese ausgesprochen mutige, in jeder Hinsicht vorbildlich gestaltete klassische Tragödie in jeweils drei Doppelfolgen heute, morgen und übermorgen.