Die Marke "Tatort" genießt einen Status im deutschen Fernsehen, den die Filme nicht immer rechtfertigen; oft genug laufen die weitaus besseren Krimis samstags und montags im ZDF. Gerade im Rahmen des "Fernsehfilms der Woche" hat das "Zweite" einige herausragende Reihen zu bieten. Bloß die Taunuskrimis nach den Romanen von Nele Neuhaus sind künstlerisch lange Zeit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Dem Erfolg hat das keinen Abbruch getan, aber das Niveau etwa von "Nachtschicht" oder "Spuren des Bösen" lag in weiter Ferne. Der fünfte Film, "Wer Wind sät", ist den Erwartungen zumindest schon mal deutlich näher gerückt. Mit "Böser Wolf" jedoch setzen Drehbuchautorin Anna Tebbe und Regisseur Marcus O. Rosenmüller einen Maßstab, an dem sich nicht nur die weiteren Neuhaus-Adaptionen messen lassen müssen. Der Zweiteiler über organisierten Kindesmissbrauch ist ein jederzeit fesselnder, gut gespielter, packend inszenierter und dramaturgisch ausgesprochen komplexer Thriller; fast hat es den Anschein, als hätten Rosenmüller und Tebbe bei ihren beiden bisherigen gemeinsamen Neuhaus-Filmen nur für diesen großen Wurf geübt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Tatsächlich passt alles, auch die beiden Hauptdarsteller scheinen endlich bei ihren Rollen angekommen zu sein; in den früheren Filmen stimmte die Chemie einfach nicht. Das hatte natürlich auch damit zu tun, dass der etwas steife Kommissar Oliver von Bodenstein (Tim Bergmann) und seine Kollegin Pia Kirchhoff (Felicitas Woll) keinen rechten Draht zueinander fanden, aber den Filmen tat diese Distanz nicht gut. Größeres Manko aber war die Inszenierung: Ausgerechnet Rosenmüller, der doch einen gewissen Ruf als Thriller-Spezialist genießt, gelang es nicht, die Spannung durchgehend hochzuhalten.
Das ist in diesem Fall völlig anders; und das trotz einer Länge von knapp 180 Minuten. Der Film überzeugt auch im handwerklichen Detail; einige Übergänge sind fast schon kunstvoll gestaltet. Sämtliche Darsteller sind gut geführt, gelegentliche Zeitlupeneinlagen passen zur Handlung, Musik und Bildgestaltung sorgen dafür, dass auch optisch und akustisch jener Sog entsteht, auf den Filme dieser Art angewiesen sind. Das Beste aber ist die Geschichte, und hier liegt, wenn man das überhaupt so nennen kann, der einzige Haken: Die Kinder und Jugendlichen, um die es letztlich geht, haben namenloses Grauen erleben müssen. Im Bild ist das nie zu sehen, aber die Andeutungen und Beschreibungen der seelischen und körperlichen Wunden genügen völlig; "Böser Wolf" wirft Blicke in menschliche Abgründe, von deren Existenz die meisten Menschen keine Ahnung hätten, wenn es solche Filme (und Bücher) nicht gäbe. Im Kern geht es um eine Einrichtung, in der junge Mütter ungewollte Kinder zur Welt bringen können, die dann umgehend zur Adoption freigegeben werden. Das in einer Burg untergebrachte Heim und sein Leiter Josef Finkbeiner (Michael Mendl) genießen allseits größte Anerkennung. Erst später zeigt sich, welch’ grimmiger Hohn der Name Burg Sonnenschein darstellt.
Die Geschichte lebt von der Frage, wer wie viel Dreck am Stecken hat
Seine Spannung verdankt der Film einer geschickten Dramaturgie, denn abgesehen vom Ermittler-Team bleibt fast bis zum Schluss offen, wer die Guten und wer die Bösen sind. Wichtigste Figuren der Handlung sind ein unsympathischer Oberstaatsanwalt (Harald Schrott), eine Psychiaterin (Natalia Wörner) und ein Rocker (Jürgen Tarrach). Alle sind auf die eine oder andere Weise in den Fall verwickelt. Der Rocker hält offenbar eine junge Frau gefangen (Karin Hanczewski), mit der die Psychiaterin immer wieder Gespräche führt. Die entsprechenden Erinnerungsfetzen ziehen sich in Form von Rückblenden durch den gesamten Film. Diese Einschlüsse sind in Schwarzweiß gehalten, weshalb signalrote Details – rote Lippen, rote Kleidung - um so stärker hervorstechen. Am Schluss wird die Frau in einem knallroten Kleid für ein spektakuläres Finale sorgen.
Bis dahin aber lebt die Geschichte nicht zuletzt von der Frage, wer hier wie viel Dreck am Stecken hat; es muss den Beteiligten große Freude bereitet haben, immer wieder für gelungene falsche Fährten zu sorgen, weil es außer beim Kripo-Trio, in dem Michael Schenk diesmal etwas mehr zu tun hat als sonst, bei den meisten handelnden Personen zum Teil erhebliche Diskrepanzen zwischen Schein und Sein gibt. Auch die weiteren Figuren sind interessant und namhaft besetzt: Jenny Elvers spielt eine TV-Moderatorin, die ihre Neugier bitter bezahlen muss, Jennifer Ulrich ihre Tochter, eine Journalistin, die der Polizei schließlich den entscheidenden Hinweis gibt. Und dann ist da noch ein Schulfreund (David Rott) von Pia Kirchhoff, der in den Verdacht gerät, seine kleine Tochter missbraucht zu haben; er ist der Sohn des Sonnenschein-Leiters. Selbst kleinste Nebenrollen sind mit unter anderem Walter Kreye als Programmdirektor eines TV-Senders und Natalia Avelon als Prostituierte, die dazu beiträgt, dass ein ganz anderer alter Fall gelöst wird, namhaft besetzt.
Markant sind zudem die Momente mit Àlex Brendemühl als früherem Anwalt, dessen Karriere abrupt endete, weil er sich mit den falschen Leuten anlegte. Als zu Beginn des Films am Main die Leiche eines furchtbar zugerichteten Mädchens gefunden wird, scheint sich zu wiederholen, was neun Jahre zuvor passiert ist. Damals hatte es einen ähnlichen Fall gegeben, auch diese Frau hatte Spuren schlimmster Misshandlungen aufgewiesen. Allein der Handlungsreichtum der Geschichte ist enorm, aber Anna Tebbe hat die Komplexität gut in den Griff bekommen. Am besten wäre es, wenn die Reihe jetzt endete; Neuhaus hat zwar noch einen siebten Taunuskrimi geschrieben ("Die Lebenden und die Toten"), aber besser kann eine Adaption kaum werden.