München (epd)Der erste Gegner ist eine mit Postern und Zeitungsausschnitten beklebte Wand. "Werft den Tennisball dagegen und fangt ihn wieder auf. Los geht's!", ruft Box-Trainer Tim Yilmaz. Die neun Jungen im Alter von 15 bis 18 Jahren stehen noch etwas unsicher neben ihm. Nach und nach nimmt jeder einen gelben Ball aus einer Kiste und wirft ihn gegen die Wand - erst zögerlich, dann immer kräftiger. "Sehr schön!", lobt Yilmaz. In eineinhalb Stunden wird er fast das ganze Pensum eines normalen Box-Anfänger-Trainings geschafft haben.
Und doch ist heute alles anders. Denn die Jungen, die in den Box-Keller des MTV 1879 in der Münchner Ludwigsvorstadt gekommen sind, sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sie kommen aus Afghanistan, Irak oder Eritrea und sind erst seit wenigen Wochen oder Monaten in Deutschland. "Irgendwann ist mir die Idee gekommen, ein Box-Training für jugendliche Flüchtlinge zu organisieren", erzählt Florian Wurzer. Der 35-Jährige hat im Studium einen Verein gegründet, mit dem er Spenden für soziale Einrichtungen in Bayern sammelt.
Tim Yilmaz kennt er schon aus der Schulzeit und konnte ihn gleich für seine Idee gewinnen. Sie fanden erste Sponsoren und den Box-Keller des Sportverein MTV als kostenfreien Trainingsort. Die ersten Flüchtlinge kommen aus einer Einrichtung der Inneren Mission München. "Das Boxen soll den Jungs vor allem dabei helfen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken für den langen Weg, den sie noch vor sich haben und die Rückschläge, die sie erleben werden", erklärt Wurzer.
Boxtraining als Vorbereitung auf Schule und Ausbildung
Unterdessen hat Yilmaz die Tennisball-Übung beendet. Ob die Flüchtlinge Wörter wie "Führhand" und "Schlaghand" verstehen, ist nicht ganz ersichtlich, aber wenn Yilmaz etwas vormacht, machen sie es einfach nach.
"Als der Vorschlag mit dem Box-Training kam, haben wir geschaut, wer noch besonders viel Selbstbewusstsein gebrauchen kann", erzählt Diakonin Ursula Zenker. Sie ist für den Unterricht der Jugendlichen in der Flüchtlingseinrichtung zuständig. Alle hätten auf der Flucht Unterdrückung, Gewalt und teilweise auch Folter erlebt, erzählt Zenker. "Es waren Momente, in denen die Jungs sehr schwach waren. Beim Boxen sollen sie jetzt neu lernen, nein zu sagen."
Der Sport habe auch noch weitere positive Auswirkungen: Die Jungen lernten hier, sich ganz auf eine Sache zu konzentrieren. Das sei wichtig für Schule und Ausbildung. Zudem ermögliche ihnen der Sport, für eine bestimmte Zeit nicht an ihre schlimmen Fluchterlebnisse zu denken.
"Ich habe Boxen im Fernsehen gesehen. Es macht mir Spaß", erzählt Linkshänder Rewas, der vor einigen Monaten aus dem Irak geflohen ist. Ein Teil seiner Geschwister ist ebenfalls in Deutschland, die anderen sind noch in der Türkei. Mehr will er über seine Flucht nicht erzählen.
Flüchtlinge sollen sich in den Verein integrieren
Aber kann das Boxen nicht sogar Gewalt auslösen? Immerhin "schlagen" sich die Jugendlichen. "Nein. Gewalt ist unkontrolliert. Der Sinn des Trainings ist es ja gerade, die eigenen Aggressionen steuern zu lernen", sagt Zenker. Auch Yilmaz sieht hier keine Gefahr - im Gegenteil. "Die lernen hier eine Sportart. Nicht, sich zu schlagen", erklärt der Trainer. Noch besteht die Trainingsgruppe nur aus Jungen. Doch Yilmaz könnte sich gut vorstellen, auch Mädchen aufzunehmen.
Für den nächsten Termin muss nun noch Sportkleidung organisiert werden. Am ersten Abend waren alle in Jeans erschienen. Das Training ist zunächst für zehn Mal finanziert. Danach wünscht sich Initiator Wurzer, dass die Jugendlichen sich in den Verein integrieren und dort Anschluss finden. Für die Gebühren und den Aufbau weiterer Gruppen überlegt er, eine Crowdfunding-Aktion zu starten.
Diakonin Zenker bestätigt, dass es bereits jetzt mehr Anfragen für das Training gab als Plätze. Das Boxen ist für die Flüchtlinge direkte Integration: "Die Jugendlichen lernen auch über den Sport hinaus viel: zum Beispiel neue Wörter oder Regeln wie Pünktlichkeit."