Dank einschlägiger Filme wissen die meisten Zuschauer, wie das Zeugenschutzprogramm der Polizei funktioniert: Ein Mann oder eine Frau sollen gegen einen mächtigen Verbrecher aussagen und müssen in Sicherheit gebracht werden. Weil auch die Angehörigen der Person in Gefahr sind, wird die Familie mit neuer Identität versehen und an einen sicheren Ort gebracht. Soweit ist das Sujet dieses Thrillers mit dem schlichten Titel "Das Programm" bekannt, zumal Grimme-Preisträger Holger Karsten Schmidt die Erwartungen erfüllt: Selbstredend kann sich die Familie trotz diverser Ortswechsel nie sicher vor den Killern des Gangsters fühlen, und natürlich kommt es irgendwann zu einer Schießerei, die Till Endemann angemessen packend inszeniert hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Reizvoll und sehenswert aber ist der Film vor allem aus einem anderen Grund, denn die Flucht findet auf einer sehr fragilen Basis statt: Die Spannungen zwischen den Familienmitgliedern resultieren keineswegs nur aus dem Druck von außen. Dank dieser komplexen emotionalen Ausgangslage gelingt es Schmidt und Endemann scheinbar mühelos, die Spannung über knapp 180 Minuten zu halten: Simon Dreher (Benjamin Sadler), Mitarbeiter einer Hamburger Privatbank, wird verdächtigt, mit Hilfe einer komplizierten Liechtensteiner Stiftungsstruktur das Schwarzgeld eines russischen Mafioso gewaschen zu haben. Das LKA will ihn aus der Schusslinie nehmen, aber Dreher lehnt ab; bis tatsächlich auf ihn geschossen wird. Ursula Therm (Nina Kunzendorf) von der Abteilung für Personenschutz bringt Dreher und seine Familie in Sicherheit, erst in ein Haus am Meer, dann nach Tirol.
Dass keiner der Beteiligten begeistert darüber ist, sämtliche Brücken hinter sich abbrechen und womöglich für immer Abschied von Freunden und Verwandten nehmen zu müssen, versteht sich von selbst. Aber Schmidt stellt eine ganz andere Frage in den Vordergrund: Wie kann ein Zeugenschutzprogramm funktionieren, wenn die Ehefrau (Stephanie Japp) kurz zuvor den Entschluss gefasst hat, ihren Mann zu verlassen und mit ihrem Geliebten (Kai Schewe) nach Portugal auszuwandern? Der erwachsenen Tochter Lona (Paula Kalenberg) geht es nicht anders: Sie ist gerade mit ihrem Verlobten (Ludwig Blochberger) zusammengezogen und will den begabten Geiger gar nicht erst mit der Frage konfrontieren, ob er seinen musikalischen Traum für ein Leben auf der Flucht aufgeben würde.
Doppelte Filmlänge mit einem geschickt eingefädelten Schlussknüller
Abgesehen von kurzen Ausflügen ins Gefängnis, wo der Gangster (Wladimir Tarasjanz) weitgehend wortlos seine Fäden zieht, und einigen Abstechern nach Hamburg, wo sich Therm mit ihrem Chef (Paul Faßnacht) bespricht, stehen nach dem Umzug ins beschauliche Tirol fast ausschließlich Familie Dreher und ihre Beschützer (neben Kunzendorf noch Alwara Höfels und Carlo Ljubek) im Zentrum. Obwohl die Handlung also scheinbar überschaubar ist, erzählt Schmidt verschiedene Geschichten. Abgesehen vom kleinen Sohn hadern zwar alle mit ihrer Lage, aber jeder aus einem anderen Grund. Auch Simon: Er leugnet hartnäckig, von dem Schwarzgeld gewusst zu haben. Weil ihn Darankow trotzdem aus dem Weg räumen wollte, muss Dreher offenbar über Kenntnisse verfügen, die dem Verbrecher gefährlich werden können, also benutzt Therm ihn kurzerhand als Lockvogel; ein Plan mit tödlichen Folgen, denn der Russe ist über jeden Schritt der Polizei informiert.
Till Endemann zieht in den Action-Szenen alle Register. Gleich zu Beginn explodiert recht spektakulär ein Auto; der Vorfall markiert auch das Ende der sehr kurzen Mitwirkung von Heiner Lauterbach. Typischer für den Stil sind jedoch die zwischenmenschlichen Momente, zumal die Flüchtenden unter vielfachem Druck stehen: Die beiden Frauen mussten ihre Liebe zurücklassen, alle müssen sich auf völlig neue und deutlich einfachere Lebensbedingungen einstellen; und keiner weiß, ob sie das Programm lebend überstehen werden. In diesen Szenen kommen dem Regisseur die Erfahrungen aus Filmen wie "Flug in die Nacht" (über das Unglück von Überlingen), "Carl & Bertha" (das Ehepaar Benz) oder zuletzt dem Justizdrama "Der Fall Harry Wörz" zugute.
Mehr noch als bei den früheren Arbeiten war diesmal die Besetzung entscheidend dafür, dass die dramaturgische Konstellation funktioniert. Das gilt vor allem für die beiden zentralen Rollen: Benjamin Sadler ist als Sympathieträger mit Unschuldsmiene ebenso glaubwürdig wie Nina Kunzendorf als kühle Technokratin, die nur einmal die Kontrolle über ihre Gefühle verliert. Dank der doppelten Filmlänge konnte sich Schmidt zudem genug Zeit für die Beziehung von Tochter Lona nehmen, um die emotionale Fallhöhe herzustellen. Geschickt eingefädelt ist auch der Schlussknüller, mit dem der Autor eine alte Spielerdevise beherzigt: Wenn man am Ende ein Ass aus dem Ärmel schütteln will, muss man es vorher hineingesteckt haben.