Momentan braucht Johannes Auer etwas mehr Hilfe als sonst. Die Behördenbriefe stressen den seit vielen Jahren obdachlosen Wiener: Ob Krankenkasse oder Sozialamt für ihn zahlen, ist unklar. Formulare, Fristen, Widersprüchliches: "Mir geht gleich die Pumpe, wenn ich in den Briefkasten sehe", sagt der 51-Jährige, der eigentlich anders heißt und die Post am liebsten ignorieren würde. Das geht natürlich nicht. Aber: "Es ist schon besser, dass ich das nicht alleine machen muss."
Wie viel Hilfe er sich holt, entscheidet Auer selbst. Ebenso wie alles, was seine Wohnung angeht. Wohlgemerkt seiner eigenen, für die nur er einen Mietvertrag und einen Schlüssel hat. Die Wohnungslosen-Organisation Neunerhaus hat ihm diese Wohnung nicht am Ende eines langen Hilfeweges vermittelt, sondern am Anfang. Sogar noch bevor er überhaupt angefangen hatte, mit einem Betreuer die Nachwirkungen seiner nach Scheidung und Arbeitslosigkeit begonnenen Lebenskrise anzugehen.
Bedingung für die Vermittlung der eigenen vier Wände war diese Betreuung aber nicht: Wohnen und Hilfe sind bei "Housing First" (deutsch: "Wohnen Zuerst") streng voneinander getrennt. Das Konzept des Wiener Pilotprojekts stammt aus den USA. 2012 hat die Organisation Neunerhaus daraus ein eigenes Modell entwickelt. "Das ist ein grundlegender Paradigmenwechsel in der europäischen Wohnungslosenhilfe", sagt Markus Reiter, Geschäftsführer von Neunerhaus.
Eigentlich werde Hilfe für Wohnungslose nämlich anders herum aufgezogen - auch in Deutschland. So sollen Betroffene erst betreut ihre Probleme lösen, bevor sie als "wohnfähig" in eigenen Wohnungen leben dürften, sagt Reiter. Das jedoch könne Jahre dauern und wirke auch als Disziplinierungsmittel: "Wer einen Fehler macht, riskiert gleich den Wohnplatz", erklärt Reiter. Durch Druck und Fremdbestimmung würden Menschen aber nicht selbstständig.
Erfolgsquote von 98 Prozent
Reiters Klienten wohnen in 81 Wohnungen überall in Wien verteilt. Viele kämen direkt von der Straße, ihre Vorgeschichte würden die Nachbarn nicht kennen. Bisher habe keiner der 158 Teilnehmer nur den Schlüssel und dann keine Hilfe vom Sozialarbeiter angenommen, erzählt Reiter. Nur einer habe die Wohnung verloren und den Kontakt abgebrochen. Alle anderen wohnten "stabil", überwiesen die Miete und kämen auch gut mit den Nachbarn aus.
Inzwischen verzeichne der Pilotbericht eine Erfolgsquote von 98 Prozent. Die meisten der rund 10.000 Wiener Wohnungslosen könnten so sofort zu Wohnenden werden, schätzt Reiter. Aber: Wohnungen, für deren Miete Sozialhilfe reicht, sind Mangelware. Zum Modell gehöre deshalb eine Wohnungsplattform - und harte Überzeugungsarbeit. Inzwischen gebe es 17 Partner aus der Wohnungswirtschaft.
Der Vorteil für den Sozialstaat ist klar: Er spart viel Geld. 80 "Housing-First"-Wohnungen kosteten den städtischen Fonds "Soziales Wien" jährlich 700.000 Euro, sagt Abteilungsleiter Kurt Gutlederer. Ein klassisches Wohnheim sei fast doppelt so teuer. "In einer Einrichtung wird halt rund um die Uhr betreut, bei 'Housing First' nach Bedarf - und das ist weniger."
Darauf hofft auch die Stadt Hamburg, die mit einem Modellprojekt junge Erwachsene aus Jugendhilfe-Einrichtungen nach den Prinzipien des Wiener Konzepts unterbringen will: mit eigenem Mietvertrag und freiwilliger Betreuung.
Etwa 1.200 Volljährige lebten in Hamburg vor allem deshalb noch in einer Einrichtung, weil günstige Wohnungen fehlten, sagt Wolfgang Pritsching von der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration. Würden nur 300 der jungen Erwachsenen "Housing First" statt Jugendhilfe bekommen, könnte die Stadt 1,2 Millionen Euro sparen. Aktuell unterstütze das Hamburger Projekt bereits 50 Mieter.
Laut Johannes Auer funktioniert das Wiener Projekt: "Meine Wohnung verliere ich nicht mehr." Fast sechs Jahre lang hat er bei wechselnden Bekannten übernachtet. Nach Bandscheibenvorfällen wurde er arbeitslos und trank immer mehr: "Hätte ich so weiter gemacht, wäre ich nicht mehr."