Als verspätetes Weihnachtsgeschenk für Hengasch-Fans (und jene, die es unbedingt noch werden sollten) gibt es nun einen Fernsehfilm. Autor ist Benjamin Hessler, der zuletzt an "Mordkommission Berlin 1" beteiligt war und auch schon verschiedene Serienepisoden geschrieben hat. Ihm ist ein echtes Kunststück gelungen: Die überschaubare Handlung hätte sich locker auch als Einzelfolge erzählen lassen; trotzdem ist der Film keine Minute zu lang. Ein ebenso frecher wie brillanter Kniff sorgt dafür, dass das funktioniert: Hessler erzählt seine Geschichte nicht einmal, nicht zweimal, sondern viermal.
Ist es Rache?
Der Rahmen ist der gleiche wie sonst auch: Anstatt in Köln Karriere zu machen, fristet die ehrgeizige Kommissarin Sophie Haas (Caroline Peters) nach wie ihr Dasein im abgelegenen Eifelort Hengasch, wo sie weniger mit Kriminellen, sondern vor allem mit ihren zwei nur bedingt belastbaren Mitarbeitern Schäffer (Bjarne Mädel) und Schmied (Meike Droste) geschlagen ist. Der Film beginnt mit einem Alptraum, in dem Sophie wieder mal ihrem Erzfeind Jogereit (Matthias Matschke) begegnet, jenem Bürokraten, der ihre Bewerbung auf einen Posten in Köln abgelehnt hat. Dessen Gärtner ruft kurz drauf an, weil in Jogereits Ferienhaus im Nachbarort Hammelforst eingebrochen worden ist. Am Abend dieses Tages fährt Sophie erneut zu Jogereit, wo sie kurz drauf festgenommen wird: Der Mann ist tot, sie hat die Tatwaffe in der Hand. Als Kommissarin Sandra Holm (Nina Proll), Polizeichefin von Hammelforst, von der diffizilen Beziehung zwischen der Kollegin und dem Opfer erfährt, ist der Fall für sie klar: Rache.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das ist als Geschichte ganz nett, aber auch nicht weiter weltbewegend. Zu einer sehenswerten, abwechslungsreichen und immer wieder verblüffenden Krimikomödie wird der Film, weil sich die Kommissarin aus Hammelforst von allen Beteiligten detailliert den Ablauf des zurückliegenden Tages erzählen lässt; als weitere Zeugin ist neben dem Polizeitrio aus Hengasch auch Schäffers bessere Hälfte Heike (Petra Kleinert) mit von der Partie. Der Gag an der Sache ist ähnlich wie bei Akira Kurosawas Klassiker "Rashomon" der Wechsel der Perspektiven: Die vier haben die Ereignisse nicht nur jeweils ganz anders erlebt, die entsprechenden Rückblenden werden auch filmsprachlich anders erzählt. Diese Szenen sind das Herzstück des Films und bis hin zu den Irisblenden mit viel Liebe zum Detail umgesetzt. Bei Western-Freund Schäffer ("Old Schäfferhand") zum Beispiel, dank des feuchtfröhlichen Festes ohnehin kaum Herr seiner Sinne, bekommt die Rückblende Cinemascope-Balken, weil sie zum Western mit Heldentod wird, bei Bärbel Schmied überlagern die Babyhormone alles andere, Sophies Erinnerungen sehen aus wie ein in goldgelbes Licht getauchter Werbespot für Margarine, und Heike Schäffer nutzt die Gelegenheit, um ihrer Schwiegermutter (Carmen-Maja Antoni) eins auszuwischen.
Gespielt ist das ohnehin wunderbar, wobei Bjarne Mädel die Kolleginnen sogar übertrifft, weil Schäffer dank seines akzentuierten sparsamen Spiels noch grotesker wirkt. Aber letztlich sind es die vielen wunderbaren kleinen Ideen, die "Ein Mord mit Aussicht" zu einem großen Film machen; schon der Einstieg mit einem Alptraum Sophies, in dem Jogereit dutzendfach ein fettes rotes "Abgelehnt" auf ihre Bewerbungen stempelt, ist ein echtes Kleinod. Kongenial ist auch die ironisch eingesetzte Blasmusik (Andreas Schilling). Gedreht hat den Film, und das ist eine weitere Überraschung, Jan Schomburg, dessen Kinodramen "Vergiss mein ich" und "Über uns das All" zumindest genremäßig von völlig anderem Kaliber waren.