Eine ganze Generation pubertierender junger Männer war in die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 15jährige Nastassja Kinski verknallt, was nicht zuletzt mit einer kurzen Nacktszene zusammenhängen könnte. "Reifezeugnis" machte die Tochter von Klaus Kinski buchstäblich über Nacht zum Star.
Bei älteren Zuschauern wird vor allem die skandalträchtige Geschichte die Gemüter erregt haben. Herbert Lichtenfelds Drehbuch handelt von der Liebe zwischen Gymnasiallehrer Fichte (Deutsch, Englisch, Sport) und seiner Schülerin Sina. Christian Quadflieg verkörpert diesen Mann als Bilderbuchlehrer: attraktiv, charmant, witzig und den Schülern sehr zugewandt. Seine romantische Ader sorgt dafür, dass selbst anspruchsvolle Unterrichtsstoffe (Brecht, Frisch) gut ankommen. Auch wenn sich seine Verliebtheit nicht mit der von Sina messen kann: Quadfliegs Spiel legt nahe, dass das Mädchen für Helmut Fichte mehr als bloß ein erotisches Abenteuer ist. Als Sinas Ex-Freund Michael (Marcus Boysen) die beiden beim Schäferstündchen an einem Waldsee beobachtet, will er das Mädchen später zum Sex erpressen; sie wehrt sich und erschlägt ihn mit einem Stein. Ein Zeitungsbericht bringt sie auf die Idee, den Totschlag einem Serienvergewaltiger in die Schuhe zu schieben. Als der Mann kurz drauf stirbt und Sina seine Leiche als Täter identifiziert, scheint die Angelegenheit für alle Beteiligten (außer natürlich für Michael) ein gutes Ende zu nehmen; allerdings ist der Film gerade erst halb vorbei. Prompt komplizieren sich die Verhältnisse: Vor seinem Tod hat Michael einer Mitschülerin (Petra Verena Milchert) von Sina und Fichte erzählt, und die nutzt ihr Wissen, um den Lehrer dazu zu bewegen, ihren Notenschnitt zu verbessern. Der Lehrer wiederum muss sich gegenüber seiner Frau rechtfertigen: Gisela Fichte (Judy Winter), ebenfalls Lehrerin, hat in Michaels Schulheften böse Bemerkungen über das Liebespaar entdeckt. Und dann ist da ja noch der Leiter der Ermittlungen: Für Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) gab es von Anfang an einige "gefühlsmäßige Unklarheiten", die sich zur Gewissheit verdichten, als Sina den Mörder identifiziert; der Mann kann gar nicht der Täter gewesen sein.
Immer wieder wechselt Lichtenfeld die Erzählperspektiven; mal steht Sina im Zentrum, mal das Lehrerehepaar, mal die Polizisten. Veredelt wird das Drehbuch durch die Umsetzung von Wolfgang Petersen, der 1977 bereits ein etablierter Fernsehregisseur war, wenige Jahr später mit "Das Boot" (1981) auch internationale Anerkennung erfuhr und schließlich in Hollywood Karriere machte. Der Inszenierung ist anzumerken, wie intensiv damals, als Regisseure noch weit über dreißig Drehtage Zeit hatten, mit den Schauspielern gearbeitet werden konnte: Jede Geste, jeder Blick sitzt. Bildgestaltung und Anschlüsse sind von ähnlich großer Sorgfalt. Die Musik, dominiert von der zu jener Zeit in der Popmusik äußerst populären Querflöte, sorgt dafür, dass man quasi in die Seele der Protagonisten hineinhören kann. Besonders deutlich wird das, nachdem Michael das Liebespaar beobachtet hat und der verwirrte und zornige junge Mann von psychedelischen Klängen regelrecht aus dem Wald getrieben wird. "Reifezeugnis" ist ein echter Klassiker, der auch fast vierzig Jahre später nichts von seiner Qualität eingebüßt hat und der nach wie vor zu Tränen rührt, als Fichte seiner Schülerin schließlich das Herz bricht.