Während sich die ZDF-Adaptionen früherer Jahre mitunter etwas zogen, weil kurze Vorlagen auf Spielfilmlänge gestreckt werden mussten, wirkt das Drehbuch (Max Honert, Jörg Menke-Peitzmeyer) in diesem Fall sogar stimmiger als die Erzählung der berühmten Brüder. Außerdem hat der Film anders als manch’ andere ZDF-Märchen einen Hauptdarsteller zu bieten, der weit mehr als bloß ein attraktiver Langweiler ohne Ausstrahlung ist; Tim Oliver Schultz hat sich zuletzt schon mit der Vox-Serie "Club der roten Bänder" (er verkörperte den Clubgründer) für weitere Hauptrollen empfohlen.
In "Die weiße Schlange" spielt Schultz den klassischen Märchenhelden, dem die Perspektive von Stand und Elternhaus nicht genügt: Bauernsohn Endres lernt lieber Lesen und Schreiben, anstatt das Dach der maroden Hütte zu flicken; prompt setzt ihn der Vater irgendwann vor die Tür. Endres erreicht auf seiner Wanderschaft ein Schloss und gewinnt das Vertrauen von König Konrad (Reiner Schöne), der ihn zu seinem Leibdiener macht.
Fortan ist er für ein tägliches Ritual zuständig: Nach dem Essen muss er Konrad eine Schüssel bringen, deren Inhalt der König selbst vor Frau und Tochter geheim hält. Im Gegensatz zu Prinzessin Leonora (Frida Lovisa Hamann) kann Endres seine Neugier jedoch zügeln. Dafür findet er raus, dass Konrad mit den Tieren sprechen kann; deshalb ist der Herrscher auch über alles informiert, was in seinem Reich vorgeht. Als der in Leonora verliebte Schönling Ritter Arnold (Dominik Raneburger) erkennt, dass die Prinzessin, deren Pferd Endres gerettet hat, recht angetan von dem Leibdiener ist, fädelt er ein Komplott gegen ihn ein: Endres soll einen wertvollen Ring gestohlen haben. Der junge Mann ahnt, dass der geheimnisvolle Inhalt der Schüssel seine einzige Chance ist. Das Gefäß enthält die Überreste einer weißen Schlange; als Endres davon kostet, kann auch er die Tiere verstehen. Er findet zwar den Ring, aber nun will der König erst recht seinen Kopf. Endres erfährt, dass es eine weitere weiße Schlange gibt, in deren Reich es zum fesselnden Finale kommt; und weil er im Gegensatz zu Konrad seine Gabe verwendet, um den Tieren Gutes zu tun, haben tierische Helfer großen Anteil am Happy End.
Die Handlung ist gerade für einen Märchenfilm, der sich ja an die ganze Familie richtet, von ungewöhnlicher Komplexität; für Kinder im Grundschulalter ist sie womöglich zu kompliziert. Bemerkenswert ist allerdings die Regieleistung von Stefan Bühling, der außer Kurzfilmen bislang nur Serienfolgen inszeniert hat. Der Film ist durchgängig spannend, wenn auch weniger im Sinn von Nervenkitzel. Es gibt allerdings einige Szenen, in denen Kinder mit dem jugendlichen Helden mitfiebern werden, weil er Gefahr läuft, bei heimlichen Aktionen erwischt zu werden. Herausragend ist zudem die Bildgestaltung (Hermann Dunzendorfer); gerade die Szenen, die des Nachts oder im Zwielicht spielen, sind ausgesprochen kunstvoll ausgeleuchtet.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Einige liebevoll gestaltete Übergänge verraten zudem die Sorgfalt im Detail. Auch in der differenzierten Führung der Darsteller beweist Bühling großes Geschick. Schöne zum Beispiel spielt den König keineswegs als Unhold. Konrad ist zwar streng, aber nicht unsympathisch. Tim Oliver Schultz trägt den Film scheinbar mühelos und hat ganz sicher eine vielversprechende Karriere vor sich, zumal er nicht nur in den romantischen und dramatischen Szenen überzeugt, sondern auch beim finalen Schwertkampf. Frida Lovisa Hamann, hier in ihrer ersten Langfilmrolle überhaupt, versieht Leonora mit einer neckisch-schnippischen Haltung, die der hübschen Prinzessin einen modernen Anflug gibt. Die junge Berliner Burgschauspielerin darf sich garantiert auf weitere Engagements in ZDF-Produktionen freuen.
Einziges Manko dieses Films sind die wenigen Momente, in denen der Film explizit die Bedürfnisse der jüngsten Zuschauer berücksichtigt: Die sprechenden Tiere klingen doch sehr nach Kinderfernsehen; die Ziegen plaudern meckernd, die Enten quakend, die Hühner gackernd (als Tierstimmen wurden unter anderem Katy Karrenbauer, Ingo Naujoks und Johannes Büchs verpflichtet). Gerade angesichts der in jeder Hinsicht insgesamt doch recht düsteren Geschichte wirken diese Szenen beinahe deplatziert. Davon abgesehen jedoch setzt "Die weiße Schlange" die Reihe herausragender Märchenproduktionen wie "Die Schöne und das Biest" (2012, Robert Geisendörfer Preis) und "Die Schneekönigin" fort.