Die Vorgeschichte muss man sich denken, denn erzählt wird sie nicht: Der "Polizeiruf" aus Potsdam ist umgezogen, Olga Lenski (Maria Simon) bildet nun nach der Pensionierung ihres Kollegen Horst Krause mit Kriminalhauptkommissar Adam Raczek (Lucas Gregorowicz) das Herzstück einer deutsch-polnischen Ermittlergruppe im Grenzgebiet von Frankfurt an der Oder. Das ist erst mal interessant, weil unterschiedliche Mentalitäten aufeinanderprallen und sich für die Ermittlerin einiges ändert: Sie ist nicht mehr Chefin, sie kann kein polnisch, und sie muss ihre Vorurteile revidieren. Auch der Einstieg ist originell: Auf dem Weg zur Arbeit wird Lenski Zeugin einer Verfolgungsjagd. Die polnische Polizei zwingt einen Wagen zum Anhalten, der Fahrer flüchtet zu Fuß, aber im Auto ist ein weiterer Mann, und weil er schwerverletzt ist, setzt sich Lenski kurzerhand hinters Steuer und bringt ihn ins Krankenhaus, was die polnischen Kollegen verständlicherweise etwas befremdlich finden. Später erliegt der zu Tode geprügelte Mann seinen Verletzungen.
Nach dem flotten Auftakt lässt das Tempo allerdings merklich nach. Das muss kein Fehler sein; die Krimis aus Potsdam waren auch oft ein bisschen gemütlich und meistens trotzdem sehenswert. Bei "Grenzgänger" suchen die insgesamt drei Autoren – neben Claudia Boysen und Uwe Wilhelm hat auch noch Regisseur Jakob Ziemnicki Hand angelegt – allzu lang nach ihrer Geschichte. Oder anders gesagt: Die Handlung verzettelt sich ein wenig zwischen den verschiedenen Ebenen. Hier ein Vater/Sohn-Drama, dort das bedauernswerte Schicksal tschetschenischer Einwanderer, im Hintergrund illegale Boxkämpfe, bei denen sich die Beteiligten mit bloßen Fäusten bis aufs Blut bekämpfen, und schließlich die Anpassungsprobleme von Olga Lenski: Da kann man schon mal den Überblick verlieren. Aus dem dramatischen Rahmen fallen zudem die kleinen komödiantischen Einlagen von Fritz Roth als Lenskis Mitarbeiter Wolle. Er ist mit an die Oder gekommen und muss sich den Fußraum unter seinem Schreibtisch mit einem trägen Basset teilen, der sinnigerweise Speedy heißt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der ständige Wechsel der Handlungsebenen hat beinahe zwangsläufig zur Folge, dass die beteiligten Personen oberflächlich bleiben. Manfred Zapatka zum Beispiel ist fast verschwendet an seine Rolle als schmallippiger Anwalt, der ein angespanntes Verhältnis zu seinem Sohn (Christoph Luser) hat. Der junge Mann, ebenfalls Jurist, ist die interessanteste Figur der Geschichte, weil er seine Zeit offensichtlich lieber im Boxring als in der Kanzlei verbringt und durch die Erwartungen des Vaters enorm unter Druck steht. Zu kurz kommt auch die Ebene mit den Tschetschenen, die in einem Heim für Asylbewerber die Zeit totschlagen. Wie so oft, wenn Autoren es gut meinen, ist den entsprechenden Dialogen anzuhören, dass sie nicht für die Filmfiguren, sondern für die Zuschauer bestimmt sind. Ziemnickis ruhige Inszenierung ist nicht weiter auffällig, sieht man davon ab, dass die Kampfszenen gegen Ende und die Rückblende mit dem Mord ziemlich brutal aussehen. Aber Maria Simon und Lucas Gregorowicz sind ein interessantes Gespann, zumal Lenski noch nicht recht schlau aus dem Kollegen wird, der sie immer wieder mal mit Zeitlupeneinlagen verblüfft. Da Raczek beide Sprachen fließend beherrscht, weiß sie nicht mal, ob er Deutscher oder Pole ist. Die Szenen mit der gemischten Behörde sind ohnehin fast interessanter als der eigentliche Fall; das Potenzial für gute "Polizeiruf"-Krimis ist also vorhanden.