Esslingen (epd)Bei Thorsten Jäckel zu Hause sieht es ein bisschen aus wie in einem Ferienbungalow oder einem Vereinsheim. Das mag vor allem an den holzvertäfelten Wänden liegen sowie den Deutschlandfahnen, die er dort aufgehängt hat. Der 49-Jährige hat es urgemütlich und eher heiß als warm - so sehr hat er die Heizung an diesem Späterherbstabend aufgedreht. "Seit ich hier im Dorf bin, ist mein Leben leichter", sagt Jäckel.
Bis vor einem Jahr war der 49-Jährige wohnungslos - 20 Jahre lang. Dann hat er endlich einen Platz gefunden: im Berberdorf im schwäbischen Esslingen. Dort wohnen derzeit 26 Menschen. Das Dorf wird von der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart betrieben, einem Mitglied der Diakonie. Die Bewohner sind verteilt auf rund ein Dutzend Holzhütten. Sie alle kommen von der Straße und leben übergangsweise in dem Dorf - bis sie irgendwann so weit sind, in einer richtigen Wohnung zu leben.
Kein durchdachtes Konzept
Aufnahmeeinrichtungen für Wohnungslose gibt es viele in Deutschland. Was das Berberdorf so einzigartig macht, ist seine Entstehungsgeschichte: Es wurde nicht gegründet, sondern es ist gewachsen. So gibt es auch kein durchdachtes Konzept, das der Einrichtung zugrunde liegt, und kein Reißbrett an das jemand geschrieben hat 'So kann man den Menschen am besten helfen'.
Ende der 1980er Jahre waren die Wohnungslosen plötzlich hier, auf einem relativ windgeschützten Platz zwischen zwei Brücken am Rande der Stadtautobahn. Sie organisierten Zelte und begannen, sich einzurichten. Die Esslinger stellten den Wohnungslosen Bauwagen zur Verfügung, die später von der Stadt durch Holzhütten ersetzt wurden. Als die Evangelische Gesellschaft Stuttgart den Betrieb der Siedlung übernahm, war aus einer Platte in wenigen Jahren eine offizielle Aufnahmeeinrichtung geworden.
"Weil unser Dorf ein bisschen aussieht wie eine Schrebergartensiedlung, herrscht hier auch eine ganz eigene Atmosphäre. Die Menschen können viel selbst gestalten", sagt Sozialpädagoge Horst Kenschner. Das gilt nicht nur für die Einrichtung in den Hütten, sondern auch für die Wege davor. Viele Bewohner haben sich einen Garten angelegt, pflegen Sträucher oder haben eine Sitzecke. Einer der Bewohner hat sich einen kleinen Zaun vor den Garten gebaut.
Mit einem Kollegen losgezogen
"Wer auf der Straße lebt, ist ganz oft Grenzverletzungen ausgesetzt. Bei uns im Dorf haben die Leute zum ersten Mal die Möglichkeit zu zeigen: 'Das ist meines'", sagt Kenschner. Und das funktioniere über Muster, die auch in der Welt der Wohnenden gut funktionierten. So überböten sich manche der Dorfnachbarn darin, sich vor Weihnachten Lichterketten in die Stuben zu hängen, sagt Kenschner.
Für Thorsten Jäckel ist das ein ganz neues Gefühl: Als er vor vielen Jahren zunächst seine Freundin, seinen Job und schließlich seine Wohnung verloren hatte, hat er noch eine Zeit lang in Hamburg gelebt. "Auf einmal hielt mich nichts mehr in der Stadt. Also bin ich mit einem Kollegen losgezogen - und zwar durch ganz Deutschland." Zu Fuß sei er von Ort zu Ort gezogen, immer dorthin, wo gerade Tagessätze ausgezahlt wurden und man ihn nicht vertrieben hat. Bis ihm in Esslingen ein Kollege von dem Dorf erzählt habe. Dort hat er dann um Aufnahme gebeten.
Die vielen Jahre auf der Straße haben Thorsten Jäckel gezeichnet, heute leidet er an Angstzuständen und Depressionen. Trotzdem ist er optimistisch: Er hofft, irgendwann in eine neue Wohnung zu können, sobald er die Angst in den Griff bekommen habe. "Ich kann das schaffen, weil ich merke, dass ich hier Rückendeckung habe." Rückendeckung - und eine Holzhütte mit Deutschlandfahnen.