Das Klassenzimmer ist bunt. Neben der Tafel hängen selbst gemalte Bilder von Planeten und Raketen. Gesichter, die sich aus ausgeschnittenen Bananen, Kürbissen und Karotten zusammensetzen, verzieren die Tür. Am Schrank in der Ecke kleben die Symbole der fünf Weltreligionen und ihre Bezeichnungen: Judentum, Hinduismus, Christentum, Islam und Buddhismus. Und auch die Namen der Schüler erzählen von Vielfalt: Elisabeth, Michal, Yusuf, Saeed.
Saeed, ein kleiner, dunkelhaariger Junge aus Afghanistan, deckt eines der vielen quadratischen Memory-Kärtchen auf dem Tisch auf und sagt blitzschnell: "Eichhörnchen!" Benita Kawalla, die ihn betreut, grinst stolz. "Eichhörnchen ist phonetisch echt kacke", sagt sie später. "Über solche Erfolge freut man sich schon."
Erst sind sie weggelaufen, jetzt spielen sie mit anderen Kindern
Die 17-jährige Benita macht seit dem 1. September ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) beim Stephansstift in Hannover, die Einrichtung der evangelischen Diakonie setzt sie dort in der Wilhelm-Busch-Schule ein. "Vormittags helfe ich als eine Art zweite Lehrerin in einer Grundschulklasse mit", erklärt sie, "nachmittags betreue ich die Kinder bei den Hausaufgaben und dann kommen die AGs." Die AGs sind ein zusätzliches Angebot der Ganztagsschule. Benita ist in der AG "Mosaikwerkstatt" aktiv, in der AG "Lego Bauen" und in der AG "Deutschland erleben". Bei Letzterer bringt sie Flüchtlingskindern wie dem sechsjährigen Saeed und seinem älteren Bruder Sina Deutsch bei. "Toilette", sagt Saeed zu Benita und läuft aus dem Zimmer. "Mit einzelnen Wörtern klappt es schon recht gut, ganze Sätze sind noch zu schwierig", sagt Benita über die Fortschritte der Kinder.
Vor Sina liegt bereits ein dicker Stapel von Memory-Karten. Unter all den Karten findet er immer souverän ein Paar. Jedes Mal, wenn er wieder erfolgreich zwei zusammengehörende Tierkarten aufdeckt und die Namen der Tiere sagt, lacht er verlegen. Saeed und Sina sind erst seit einigen Monaten in Deutschland. Ihre Familie floh aus Afghanistan und kam in einem Flüchtlingsheim nahe der Schule unter. "Die beiden haben sich gut entwickelt", erzählt Benita. Anfangs seien sie noch weinend und schreiend weggelaufen. Sie waren mit der neuen Situation völlig überfordert. Mittlerweile spielen sie mit den anderen Kindern auf dem Schulhof. Wenn sie sich nicht verstehen, kommunizieren sie mit Händen und Füßen. Oder andere Kinder mit Migrationshintergrund dolmetschen. "Heute hat mich Saeed gefragt, wie alt ich bin", sagt sie, "das konnte er letzte Woche noch nicht."
Benita trägt ein weißes Shirt. Darauf abgebildet sind zahlreiche Köpfe in unterschiedlichen Hautfarben, mit langen Bärten, Turbanen, Kippas, Kopftüchern oder Mützen. Ihr Fahrrad schmückt ein Aufkleber: "Fukushima ist überall - AKWs jetzt abschalten!" Was sie nach dem FSJ machen will, weiß sie noch nicht genau. "Ich habe schon mit 16 Abitur gemacht und wollte danach nicht direkt entscheiden, was ich in den nächsten 70 Jahren mache", sagt sie und klingt dabei nicht wie eine unentschlossene Teenagerin, sondern wie eine, die sich ihren Weg erst ganz genau überlegt, bevor sie ihn geht. Sie habe daran gedacht, Lehrerin zu werden, so wie ihre Mutter. Momentan interessiere sie sich aber eher für Politik. "Auf jeden Fall etwas, wo man Entscheidungen treffen und wirklich etwas bewegen kann", erklärt sie. Praktika im Landtag und auch im Bundestag hat sie schon gemacht. "Ich habe aber noch nicht die richtige Partei gefunden."
Die AG "Deutschland erleben" hat die pädagogische Mitarbeiterin Tatjana Wilhelm ins Leben gerufen. Sie leitet das Projekt seit April. Eines Tages sei der Direktor der Schule auf Wilhelm zugekommen und habe ihr erzählt, dass das evangelische Stephansstift Spendengelder für Deutschkurse zur Verfügung stellen könne. Jetzt übt Wilhelm einmal wöchentlich mit den Müttern Deutsch in einem Klassenzimmer. Im Raum gegenüber bringt Benita den Kindern die Sprache durch Basteln und Malen bei.
Für Wilhelm, die selbst vor 13 Jahren aus Russland nach Deutschland kam, war klar, dass allein die Sprache zu pauken nicht genug ist. "Da fehlt der Bezug zum echten Leben", sagt sie. "Wenn man die Sprache nur lernt, sie aber nie richtig einsetzen muss, vergisst man das schnell wieder." Also konzipierte sie die AG so, dass die Frauen und Kinder zum Beispiel erst Tiernamen auswendig lernen und danach den Zoo besuchen. "Sie sollen das Land durch soziale Interaktion kennen lernen", sagt Wilhelm. Kinobesuche haben sie schon hinter sich, Einkaufstouren sollen noch folgen.
FSJs in der Flüchtlingshilfe sind in der Entwicklung
FSJs oder Bundesfreiwilligendienste (BFD) mit Flüchtlingen gibt es bisher noch nicht im großen Stil. Über einzelne Projekte oder Umwege können Jugendliche wie Benita sich aber jetzt schon engagieren. Das Familienministerium hat für die BFDs eine Aufstockung bewilligt, wodurch bereits ab Dezember 10.000 neue Plätze für Freiwillige in der Flüchtlingshilfe, aber auch für Flüchtlinge selbst zur Verfügung stehen.
"Die Träger sind gerade dabei, sich mit entsprechenden Einsatzstellen zu vernetzen und die Konzepte für die Beleitung der Freiwilligen zu erstellen", erklärt Kathrin Wirz, Referentin für FSJ und BFD bei den Evangelischen Freiwilligendiensten. Denn manche Fragen sind noch offen: Sollen nur Jugendliche mit Vorerfahrung mit den Flüchtlingen arbeiten dürfen? Müssen die Freiwilligen volljährig sein? Wie sieht die Begleitung aus?
"Die Freiwilligen können in der Flüchtlingsarbeit mit Dingen konfrontiert werden, die sie so noch nie erlebt haben: Menschen in Angst vor der Abschiebung oder mit traumatischen Fluchterfahrungen", sagt Wirz. Deshalb sei eine gute fachliche Anleitung in der Einsatzstelle und eine kontinuierliche pädagogische Begleitung durch den Träger wichtig.
Übergreifend für die evangelischen Träger wurden bereits Eckpunkte für die Betreuung der Freiwilligen erarbeitet, damit ein Freiwilligendienst von Flüchtlingen oder in der Flüchtlingsarbeit einem Bildungs- und Orientierungsjahr gerecht wird. Das heißt, die Freiwilligen, die sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren oder als Flüchtling einen Freiwilligendienst leisten, nehmen beispielsweise an mindestens 25 Seminartagen teil. Im kommenden Jahr sollen die ersten konkreten Programme anlaufen. "Momentan ist noch vieles in der Entwicklung", sagt Wirz.
Für Benita klappte es auch so schon. Dass sie im Bereich der Flüchtlingsarbeit mithelfen darf, liegt auch an ihrem privaten Einsatz. Seit zwei Jahren engagiert sie sich bereits in einem Flüchtlingsheim in ihrem Stadtteil. Sie spielt mit den Kindern einer Familie, hilft bei Behördengängen oder kommt mit zum Elternabend.
An diesem Tag dreht sich in Benitas kleiner Gruppe alles um das Thema "Kleidung". Nachdem sich die Kinder beim Tier-Memory aufgewärmt haben, hält Benita Kleidungsstücke hoch, die sie von zu Hause mitgebracht hat: ein dunkelgrünes Kleid, zwei Zipfelmützen, einen pinken Rock, ein paillettenbesetztes Oberteil. Die Kinder zeigen darauf und sagen, worum es sich handelt. Dann kleben sie einen Zettel mit der Bezeichnung darauf und dürfen sich damit verkleiden. Als Sina seinem Bruder Saeed auf Afghanisch Tipps gibt, sagt Benita bestimmt: "Sina, auf Deutsch!" Wenn sich dann die polnischen Kinder am Tisch in ihrer Sprache unterhalten, fragen die Afghanen: "Was? Was? Was?" und kichern. "Hier verstehen wir uns nur, wenn wir deutsch miteinander sprechen", erklärt ihm Benita geduldig. Anschließend malen Sie Kleidungsstücke, die ihnen Benita vorsagt, auf einem Stück Papier bunt aus. Oder sie kleiden Mäusepuppen aus Holz in Miniaturklamotten. Die Kinder arbeiten bis zum Schluss konzentriert mit, obwohl schon später Nachmittag ist.
Zur Belohnung folgt noch eine Runde Memory. Neue Tiere kommen dazu, etwa die Robbe oder der Eisbär. Als Sina wegsieht, vertauscht Saeed ein paar Karten. Trotzdem gewinnt Sina wieder - und lacht verlegen.