"Straßburg wurde als eine der ersten Städte im Reich protestantisch", sagt der Heidelberger Kirchenhistoriker Johannes Ehmann. Prediger wie der Messpriester des Münsters, Matthias Zell (1477-1548), begeisterten die Menschen für die neue Lehre Luthers. Buchdrucker verbreiteten evangelische Abhandlungen und Streitschriften. Theologen, allen voran Martin Bucer (1491-1551), trugen die Reformation in die Stadtbürgerschaft hinein und sorgten für ihre Verbreitung im süddeutschen Raum.
Der neue evangelische Glaube führte auch dazu, dass das heute 1000 Jahre alte Straßburger Münster für mehr als 150 Jahre evangelisch war – von 1524 bis 1681. Mit der Abschaffung der katholischen Messe wurden damals Gemälde, Statuen, Reliquien, Kruzifixe und geweihte Kultobjekte aus den Kirchen geholt und teilweise zerstört.
Mal deutsch, mal französisch
Abgesehen von diesem Bildersturm entwickelte sich in Straßburg eine vermittelnde, gemäßigte Form der Reformation. Im Streit der beiden Reformatoren Martin Luther und Ulrich Zwingli über die Bedeutung des Abendmahls gingen die Straßburger Protestanten einen Mittelweg. Gemeinsam mit den Städten Konstanz, Lindau und Memmingen formulierten sie ein eigenes Glaubensbekenntnis, die "Confessio Tetrapolitana", und erstellten 1534 eine eigene Kirchenordnung.
Auch für verfolgte Protestanten aus ganz Europa war Straßburg ein Zufluchtsort, sagt Kirchenhistoriker Ehmann. Glaubensflüchtlinge aus Frankreich wie der Reformator Johannes Calvin wurden ebenso aufgenommen wie Vertreter radikaler evangelischer Bewegungen wie die der Täufer. Die Straßburger Protestanten selbst wandten sich 1577 der lutherischen Glaubenslehre zu.
Die wechselvolle Geschichte Elsass-Lothringens spielte für die Entwicklung der Religion in dem Gebiet eine große Rolle: In der Neuzeit war Elsass-Lothringen - je nach Kriegsausgang - mal Frankreich, mal Deutschland zugeordnet. Infolge des Westfälischen Friedens von 1648 wurde das Gebiet französisch (Straßburg: 1681). Doch als König Ludwig XIV. 1685 mit dem Edikt von Fontainebleau die evangelische Konfession verbot, war das Elsass davon ausgenommen. Die evangelischen Gemeinden durften bestehen bleiben und ihren Gauben leben – wurden allerdings gezwungen, katholische Gläubige in ihren Kirchen die Messe feiern zu lassen, sobald sieben katholische Familien in einem Ort lebten.
Mehr Protestanten als im "Inneren" Frankreichs
In der Folgezeit prägten besonders der evangelische Pfarrer, Pädagoge und Sozialreformer Jean-Frédéric Oberlin (1740-1826) und der evangelische Theologe, Arzt, Organist und Philosoph Albert Schweitzer (1875-1965) das protestantische Leben in Straßburg.
Auch 1905 profitierten die Protestanten in Elsass-Lothringen von ihrer Staatszugehörigkeit – diesmal zu Deutschland. In Frankreich trat die Trennung von Staat und Kirche in Kraft, in Elsass-Lothringen nicht. Bis heute haben die Kirchen dort eine Sonderstellung gegenüber denen im "Innern" Frankreichs: Priester und Pastoren sind in Elsass-Lothringen Staatsbeamte und in den Schulen gibt es Religionsunterricht.
Die evangelischen Kirchen in Elsass-Lothringen (mit den heutigen Départements Bas-Rhin, Haut-Rhin und Moselle) sind die Protestantische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses von Elsass und Lothringen (EPCAAL) und die Reformierte Kirche von Elsass und Lothrigen (EPRAL). 2006 haben sie sich zusammengeschlossen in der Union Protstantischer Kirchen von Elsass und Lothringen (UEPAL). Nach Angaben der UEPAL sind heute 17 Prozent der Einwohner Elsass-Lothringens Protestanten, aber nur zwei Prozent in ganz Frankreich.
Genau in der Kirche, wo 2006 die Vereinigung der beiden evangelischen Konfessionen in Elsass-Lothringen gefeiert wurde, soll an diesem Samstag der Gottesdienst zur Eröffnung des neuen Themenjahres der Lutherdekade stattfinden: In der Église Saint-Thomas in der Rue Martin Luther. Saint-Thomas ist die größte Kirche Straßburgs nach dem Münster, das sie 1681 als lutherische Hauptkirche der Region ablöste.
Reformation in Europa und der Welt
Im Gottesdienst zum Reformationsfest, der am 31. Oktober ab 16 Uhr auf Phoenix übertragen wird, hält die Reformationsbotschafterin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Margot Käßmann, die Predigt. Ihr Thema: Die Verbreitung des Christentums in neue Gebiete (Apostelgeschichte 16,1-15) und die scheinbaren Widerstände, die Gottes Geist den Menschen dabei manchmal in den Weg legt. Um den Sinn einer neuen Situation zu erkennen oder sie gar als bereichernd zu erleben, ist manchmal ein Perspektivwechsel nötig – sei es eine neue Art, Gottes Auftrag zu verstehen, oder die Herausforderung anders wahrzunehmen, die Migranten nach Europa mitbringen. So schlägt der Gottesdienst einen Bogen von der Reformationszeit mit ihren Glaubensthemen bis ins heutige Europa mit all den politischen und religiösen Fragen, auf die Protestanten und Katholiken gemeinsam Antworten suchen.
Nach dem Gottesdienst geht die Perspektive dann noch über Europa hinaus: Das Ehepaar Horst und Eva Luise Köhler wird für sein politisches und soziales Engagement mit der Martin-Luther-Medaille der EKD ausgezeichnet. Horst Köhler hatte als Bundespräsident die Initiative "Partnerschaft mit Afrika" gegründet. Eva Luise Köhler übernahm als Erste Frau im Staat die Schirmherrschaft etwa für das Müttergenesungswerk und den deutschen Zweig des Kinderhilfswerks Unicef. Mit der Martin-Luther-Medaille ehrt die EKD mit Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 evangelische Persönlichkeiten, die mit ihrem reformatorischen Glauben in der Gesellschaft wegweisend wirken.
Zum Abschluss des Reformationsfestes in Straßburg folgt um 19 Uhr ein Festakt zur Eröffnung des EKD-Themenjahres 2016 "Reformation und die Eine Welt" im Plenarsaal des Europarates. Auch durch die Wahl dieses Ort wird deutlich, dass die Reformation nicht als rein deutsches Ereignis verstanden werden darf: Ihren Ausgang nahm sie ebenso in Tschechien, England, Südfrankreich und der Schweiz, mit direkten Auswirkungen auf die religiöse Landschaft in Europa – und in der ganzen Welt.